Im Banne des Coyoten                   

 

 Die ersten 61 Seiten ...

 

 

Ich bin David Watkins und halte mich für einen nüchternen Menschen, der mit beiden Beinen im Leben steht. Mein Beruf als FBI Agent verlangt ein gewisses Maß an Menschenkenntnis und eine gute Beobachtungsgabe. Ich habe gelernt, dummes Geschwätz von wahrheitsgetreuen Aussagen zu unterscheiden. Deshalb glaube ich an Geister. Neuerdings zwar, aber ich bin überzeugt, dass es gute sowie böse Geister gibt.

Und ich bin freiwillig durch giftige Schlangen gelaufen. Es waren so an die hundert, die ihre Giftköpfe zu mir empor reckten. Seitdem ist mir bewusst, dass ich zu der seltsamen Gattung gehöre, die das Böse abwendet.

 

Als ich aus beruflichen Gründen in eine Welt abrutschte, die mich auf eine gewisse Weise in ihren Bann zog, mich faszinierte und gleichzeitig auf beklemmende Art ängstigte, raubte es mir nahezu den Verstand. Es war eine Welt jenseits von jeglicher Vorstellungskraft, magisch und mystisch.

In genau dieser Welt ist Ayatéh zu Hause. Er hat einen Bruder, den Wind. Ohne seine Hilfe wären wir von diesen Fesseln nicht befreit worden. Gemeinsam haben wir sie gesprengt, den Bann gebrochen.

Ayatéh ist ein Chanter, (so etwas wie ein Schamane glaube ich), obwohl er es nicht sein will, oder glaubt es nicht zu sein. Doch egal, was er dazu sagt, ich weiß es, denn ich habe das alles wahrhaftig erlebt.

 

Ich muss gestehen, dass mich sein Animismus dahin führte, von meinem abstrakten Denken abzuweichen und mich zu völlig neuen Ansichten verleiten ließ. Vielleicht mag es etwas skurril klingen, aber meine anfängliche Begeisterung für diese mystische Welt entpuppte sich als mörderische Falle, die ich, geblendet durch meinen Enthusiasmus nicht wahrnehmen konnte.

 

Eigentlich bestand Ayatéhs Aufgabe darin, mich zu töten. Doch er dachte nicht daran, ignorierte es.

Meine Aufgabe bestand darin, ihn zu überführen, zu verhaften, aber auch ich dachte nicht daran, es zu tun.

 

Natürlich eskalierte irgendwann alles, unsere noch junge Freundschaft wurde auf eine sehr harte Probe gestellt, die standhaft bleiben musste, damit wir gemeinsam dem tödlichen Sumpf entfliehen konnten. Doch um dies zu begreifen, mussten wir Hindernisse überwinden, Blockaden, die uns gestellt wurden aus einer anderen Welt. Eine Welt, dessen Vorhang Ayatéh geöffnet hatte.

 

 

David Watkins

 

 

 

 

*

 

 

 

Wie von Götterhand erschaffen, aus einer längst vergangenen Zeit, ragen bizarre Felsen in der Steinwüste hervor, um ein Bild majestätischen Ausmaßes preiszugeben. Allmählich schiebt sich hinter diese Kulisse der rötliche Schleier des Abends, der die Landschaft in ein gigantisches Naturschauspiel verwandelt. Die gewaltigen Felsformationen schaffen ein stilles Zauberreich aus rotem Stein.

Langsam sinkt die Sonne hinter den Bergen, die wie Wächter hervorragen, um ein Land zu verteidigen, das längst verloren scheint. Die Silhouette zeichnet das malerische Bild einer einzigartigen Kulisse in der unendlichen Weite.

Der Schrei eines Adlers ertönt. Anmutig zieht er seine Kreise über die erhabenen Monumente. Dann kehrt wieder Stille ein, in den Bergen von Arizona.

Der Adler ist dem Schöpfer näher als jedes andere lebende Wesen. Er ist ein Bote. Ein Bote, um den Menschen auf den richtigen Weg zu geleiten. Ein Überbringer von Liebe, Demut und Barmherzigkeit.

Eine leichte Brise durchströmt die kühle Luft und allmählich löst ein Luftzug nach dem anderen die Hitze des heißen Sommertages ab. Der aufkommende Wind wirbelt hier und dort Sand auf, der sich spiralförmig durch die Luft zieht, um sich hinter die roten Sandsteinfelsen treiben zu lassen. Der Wind kommt zurück, aber diesmal mit einer leisen Melodie. Es ist die Melodie des Todes.

In dieser bedrohlichen Atmosphäre zieht eine dunkle Macht wie ein Schleier über die Berge – auf einen Weg, der drei Menschen ins Verderben führt.

Ein hataalii2 hat sie gerufen. Ein hataalii, der kein Recht dazu hat und seine Lehre missbraucht. Die Opfer sind gefangen in ihrer Welt und wissen es noch nicht, denn es gibt kein Entkommen.

 

 

 

 

 

 

Larry fühlt sich unwohl. „Warum lasse ich mich immer wieder mit dir ein? Du hast gesagt, du kennst dich gut aus, nun sitzen wir hier.“ Er bricht ein paar dünne Zweige ab, die er sich mühsam mit seinem Freund Jim Anderson zusammengesucht hatte und wirft sie abrupt ins Feuer.

„Ach, geh mir jetzt nicht auf die Nerven. Wenn es morgen früh hell wird, kommen wir hier schnell raus. Wir haben genug Sprit und genug Wasser.“ Dann zeigt Jim auf eines der beiden Motorräder, die neben ihm im Sand liegen. „Meine Kiste hat mich noch nie im Stich gelassen.“

Larry schüttelt langsam den Kopf. Seine fast schulterlangen Haare hängen fettsträhnig herunter. „Wie kann man sich nur auf eine Maschine verlassen“, sagt er, während er nervös auf dem harten, sandigen Boden herumrutscht.

Seit einiger Zeit spürt Jim einen merkwürdigen Geschmack im Mund. Diese trockene Wüste, denkt er, staubig und sandig. Aber das muss man eben in Kauf nehmen, wenn man Spaß haben will.

Den ganzen Tag hatten sie schon in der Wüste verbracht. Es war zwar heiß, aber sie waren die Hitze gewohnt. Hier konnte man Gas geben, los brettern, ohne auf den Verkehr zu achten. Niemand würde sie hier aufhalten, wenn sie sich einen Spaß daraus machten, jauchzend die riesigen Saguaro-Kakteen zu umkreisen. Grölend waren sie über die Sandhügel gerast, laut und zerstörerisch. Jim glaubt, dass er so etwas braucht und es ist nicht das erste Mal.

Doch irgendwie ist es heute anders. Plötzlich war ihm die Gegend fremd vorgekommen und nach einiger Zeit musste er zugeben, dass er die Orientierung verloren hatte. Das war ihm noch nie passiert und er war überzeugt gewesen, bald wieder zu wissen, wo sie sich befanden. Doch er hatte sich geirrt und als es dämmerte, hielt er es für das Beste, ein Nachtlager aufzuschlagen. Er war sicher, am nächsten Morgen problemlos den Rückweg zu finden. Darüber macht er sich jetzt keine Sorgen. Aber über dieses komische Gefühl im Hals. Es hatte sich verstärkt und irgendwie kommt es ihm vor, als hätte er einen Stein verschluckt, der auf halbem Wege stecken geblieben ist. Mit seinen schmutzigen, staubigen Händen reibt er seinen Hals. Dann spuckt er aus und legt sich neben das Feuer, mit dem Kopf auf den schon ziemlich verfilzten Hut.

„Hey”, knurrt Larry. „Wir haben ausgemacht, dass du zuerst auf das Feuer aufpasst.”

„Geh mir nicht auf den Wecker“, brummt Jim. Er winkelt die Beine an und legt seine Hände gefaltet hinter den Kopf. Als er die Augen schließt, nimmt er merkwürdige Töne wahr. Er fragt sich, ob er es sich einbildet. Jim hatte diesmal keine Drogen genommen, aber ohne Zweifel hört er diese Klänge. Leise, aber eindringlich. Er öffnet die Augen und sieht sich um. Alles ist wie gewohnt und irgendwie doch anders. Es ist nicht zu erklären.

„Hörst du das?“, fragt er Larry, der ihm gegenüber sitzt und gerade dabei ist, sich eine Zigarette anzuzünden.

„Was?“

„Schon gut.“ Jim zieht seinen Hut hervor und legt ihn auf sein Gesicht.

„Kojoten“, antwortet Larry. „Du hast sicher von weitem Kojoten gehört. Darum ist es wichtig, dass uns das Feuer nicht ausgeht.“

Kurze Zeit später wälzt Jim seinen Kopf hin und her und stöhnt.

„Was is´n los mit dir?“

„Weiß nicht. Komisches Gefühl - als wenn mir jemand den Hals zudrückt. Aaah ... verdammt, so was gib´s doch nicht.“

„Das hat uns gerade noch gefehlt. Ich weiß nicht, warum ich mich immer wieder mit dir einlasse. Dabei hatte ich eigentlich eine Verabredung mit Hank.“

„Hank?“ stöhnt Jim. „Was will der denn noch von dir? Es ist alles längst erledigt, wir haben den Auftrag ausgeführt. Außerdem sollen wir uns nicht mit ihm blicken lassen.“

„Wir beide sollten uns auch nicht zusammen blicken lassen. Das war abgemacht, okay? Und was diesen Auftrag angeht: Er wurde nicht so ausgeführt wie abgesprochen.“

„Na und, was macht das schon?“ Jim sieht es ziemlich gelassen.

„Was das macht? Was das macht?“ wiederholt Larry und springt erregt auf. „Wir standen vor Gericht, das macht es aus, verstehst du? Verstehst du das?“ Larry schreit es hinaus. „Du, du hältst dich an keine Abmachung, du denkst nur an deinen Spaß. Von Vergewaltigung war keine Rede, aber das kümmert dich nicht. Wir sollten Dolores umlegen und darauf achten, dass keine Zeugen übrig bleiben. Aber du hast dich über die Kleine hergemacht, anstatt dafür zu sorgen, dass niemand überlebt. Dann wäre uns nämlich die Aufregung danach erspart geblieben.“

„Montorro hat zweimal auf den Jungen geschossen“, versucht sich Jim zu rechtfertigen, obwohl er zu dieser Unterhaltung keine Lust hat. „Zwei Kugeln aus der Nähe. Als du ihn umgedreht hast, hast du ihn auch für tot gehalten. Außerdem ist jetzt alles erledigt. Keiner kann uns was nachweisen und dieser Junge erst recht nicht. Es war dunkel und niemand glaubt ihm, dass er uns erkannt hat. Nach unseren Alibis sowieso nicht. Nichts, aber auch gar nichts kann man uns was beweisen. So, und jetzt lass mich in Ruhe.“

Jim hat jetzt endgültig genug. Langsam erhebt er sich, hockt sich ans Feuer und stochert mit einem verdorrten Zweig in der Glut herum. Für einen Moment lässt dieser schwere Druck im Hals etwas nach. Aber diese Töne! Jetzt sind sie wieder da. Oder waren sie die ganze Zeit da, nur dass er sie nicht wirklich wahrgenommen hatte?

Doch Larry ist immer noch sehr aufgewühlt. „Du kannst das alles leicht sagen, denn dich haben sie nicht erwischt. Aber Montorro und mich haben sie ausgequetscht. Weißt du, wie man sich da fühlt, he? Wir können froh sein, dass wir davongekommen sind. Das war ne ziemlich brenzlige Sache. Das letzte Mal sag ich dir. Und Hank kann mir gestohlen bleiben.“

Jim erhebt sich stöhnend. „Ich kann jetzt sowieso nicht schlafen. Leg du dich hin und halt endlich den Mund.“

Ohne zu antworten, legt Larry sich auf den Boden nieder. Er glaubt nicht daran einschlafen zu können, dazu ist er viel zu aufgewühlt und deshalb versucht er an etwas anderes zu denken. Wie schön wäre es bei Elli im weichen Bett zu sein. Sie ist eine Hure, denkt er. Aber es stört ihn nicht im Geringsten. Sie ist unproblematisch und na ja, alles in allem, eine geile Braut. Morgen will er sie aufsuchen, denn er braucht Abwechslung.

Irgendwann schlief er ein. Doch schon kurze Zeit später wird er von Jim angestoßen. Mit beiden Händen umklammert der röchelnd seinen Hals. Sein Atem geht schwer.

„Mensch Jimmy, was ist los mit dir?“ Erschrocken blickt er in das aschfahle, eingefallene Gesicht seines Freundes, indessen weit aufgerissenen Augen sich das blanke Entsetzen widerspiegelt.

Aber Jim zeigt nach vorne. „Da! Da, sieh mal ...“, stößt er mit letzter Kraft hervor. Dabei stöhnt und ächzt er, während er sich immer wieder an seinen Hals greift.

Entsetzt starrt Larry in die gezeigte Richtung. „Ein Kojote, er kommt verdammt dicht ans Feuer“, flüstert er.

„Ayatéh“, krächzt Jim. „Das hier ist kein Kojote.“

Eigentlich war Jim immer der Besonnene, doch dieses Mal versucht Larry einen klaren Gedanken zu fassen. „So ein Unsinn, jetzt hat’s dich aber gepackt“, sagt er leise, doch so ganz wohl ist ihm auch nicht dabei. Funkelnde Augen starren ihn über das Feuer hinweg an. Das Tier fletscht die Zähne und das Fell im Nacken sträubt sich.

„Er kann sich in einen Wolf verwandeln“, stößt Jim hervor. Langsam führt Larry den rechten Arm zum Feuer. Deutlich ist ein Knurren zu hören.

„Wie kommst du nur auf so etwas? Außerdem ist das da kein Wolf, sondern ein Kojote.“ Oder etwa doch nicht? Larry ist sich nicht sicher. Ganz, ganz langsam greift er zu einem brennenden Holzstück und wirft es blitzschnell dem Tier entgegen. Er sieht, wie es rückwärts nach hinten springt und außer Sichtweite läuft.

„Siehst du, so macht man das – Ayatéh, das ich nicht lache. Du fantasierst herum.“

„Nein, die Leute sagen das.“

„Die Leute!“ wiederholt Larry. „Welche Leute denn?“

„Na, die Leute eben, oben im Norden, bei ... aah – bei Woody im Laden und so“, stammelt er und ringt immer wieder nach Luft. „Hier stimmt was nicht, Larry. hörst du die Töne? Das ist Skinwalker.“

Jetzt hört er sie auch. Er horcht, kann aber die Richtung nicht feststellen. Sie scheinen von überall zu kommen. Mal immer leiser werdend und dann wieder deutlicher, ähnlich wie Flötenklänge und manchmal ertönt ein Rasseln.

„Der Kojote ist weg“, sagt Larry, um sich und Jim zu beruhigen. Doch entsetzt sieht er, wie Jim sich auf dem Boden wälzt und immer wieder verzweifelt nach Luft ringt.

„Hilf mir“, stöhnt er so laut er kann und sein Atem wird immer schneller. „Larry! Larry, tu doch etwas. Ich will hier nicht krepieren.“ Dann röchelt er nur noch.

Larry sieht sich um. Was passiert hier? Und diese Töne. Er hält sich die Ohren zu. Seine Angst verwandelt sich in Panik.

Plötzlich ist da ein starker, stechender Schmerz in der Magengegend. Gequält sinkt er mit gekrümmtem Körper auf die Knie.

Dann ist Stille. Er sieht zu Jim rüber, doch der bewegt sich nicht mehr. Panisch schleppt Larry sich zu seinem Motorrad und kramt in den Satteltaschen. Mit zitternden Händen zieht er hastig das Handy heraus und ist nur schwer in der Lage, die ihm bekannte Nummer zu wählen. Doch dann hat er es geschafft und wartet. Sekunden ziehen sich zur Ewigkeit hin und die Schmerzen lassen nicht nach. Während er wartet, werden sie stärker und schließlich spürt er Blut im Mund. Endlich meldet sich eine Frauenstimme am Handy.

„Elli, hol mich hier weg. Schnell, hol jemanden her“, stammelt er hektisch ins Telefon.

„Wo bist du? Was ist los mit dir?“

Er hat Mühe zu sprechen. Blut rinnt ihm aus dem Mund. „In ... der Sonora Wüste ... Wolf.“ Das ist das Letzte, was er hervorbringt.

Sand wirbelt auf und bedeckt das Feuer. Es ist aus!

 

 

 

                                                                  *

 

 

Unruhig wälzt sich Montorro in seinem Bett. Im Traum scheint er eine Melodie zu hören. Als er aufwacht, vernimmt er sie aber immer noch. Ihm wird warm und er schlägt die Decke zurück. Er fragt sich, warum es nachts noch so warm ist. Schwerfällig steht er auf, schlurft in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen und leert es in einem Zug aus. Doch es reicht nicht, um seinen Durst zu stillen und nachdem er es wieder aufgefüllt hat, geht er zurück, setzt sich aufs Bett und horcht.

Merkwürdig, irgendwie ist alles heiß. Die Bettkante fühlt sich an, wie von der Sonne aufgewärmter Asphalt und auch am Türrahmen hatte er es bemerkt. Für ihn ist es nicht zu verstehen. Er greift nach der leeren Chipstüte, die auf dem schmutzigen Boden liegt und nach der leeren Bierdose daneben. Alles ist heiß. An der Bierdose verbrennt er sich und wirft sie im hohen Bogen weg, sodass sie gegen die Wand scheppert. Verdutzt sieht er zu, wie sie sich auf dem Boden rollt, doch in der Dunkelheit erkennt er nur die äußeren Umrisse und bemerkt nicht, dass sie qualmt.

Plötzlich steht der Kojote im Türrahmen. Obwohl es dunkel ist, kann Montorro seinen niedrigen Körper erkennen. Nervös tastet der Mann zum Lichtschalter der kleinen Nachttischlampe neben ihm. Doch auch am Schalter verbrennt er sich, bevor er ihn betätigen kann, sodass er die Lampe vor Schreck umstößt.

Das Tier hat ein Stück Holz in der Schnauze. Während es langsam näher kommt, weicht Montorro verängstigt auf seinem Bett zurück. Auf der Stirn zeigen sich Schweißperlen und das T-Shirt scheint am Körper zu kleben. In seinem bulligen Gesicht, von Narben gezeichnet, entsteht ein Ausdruck des Entsetzens.

Der Kojote legt das Holzstück auf den Boden ab und weicht ebenfalls zurück. Jetzt kann Montorro ihn nicht mehr sehen. Vorsichtig nimmt er das Holz in die Hand, vielleicht aus dem Grunde, weil er wissen will, ob es real ist, doch auch daran verbrennt er sich.

„Verdammt“, flucht er und reibt seine schmerzende Hand. Es ist also Wirklichkeit. Sein Blick schweift im dunklen Zimmer umher. Er sah dieses Tier zwar nur schemenhaft, aber es war da, denn die funkelnden Augen hatten ihn angestarrt. Ein Gefühl von überwältigender Angst breitet sich plötzlich in seinem Körper aus.

Doch als er das Tier mit seinen Blicken sucht, kann er nur die Umrisse seiner eigenen Kleidung erkennen, die verstreut zum Teil auf dem Stuhl in der Ecke liegen und daneben auf dem Boden.

Plötzlich sprüht ein Funke auf der Stuhllehne. Da – wieder! Doch dieses Mal ist es eine richtige kleine Flamme. Schnell reißt er das Kopfkissen an sich, rennt zum Stuhl und erstickt das Feuer. Seine Füße werden trotz der Socken, die er noch trägt, heiß und auch das Kissen fasst er ständig von einer Hand in die andere, um es dann im hohen Bogen von sich zu werfen. Jetzt sieht er eine Flamme mitten auf seinem Bett. Aber seltsam, denn rundherum ist kein Feuer. Plötzlich, wie aus dem Nichts taucht es auf, genau, wie es beim Stuhl war. Auch darauf wirft er das Kissen, hebt es wieder hoch und sieht nach. Die Flamme ist aus und ein dunkler Brandfleck wird sichtbar. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken, denn jetzt schießt eine noch größere Stichflamme aus dem Boden in der hinteren Ecke des Zimmers.

Er will fliehen und stürzt zur Tür. Doch schlagartig versperrt ihm eine riesige Feuerwand den Weg. Die ganze Tür brennt lichterloh und er schreckt zurück. Hier gibt es kein Entkommen. Das Fenster scheint die einzige Rettung zu sein, die letzte Hoffnung. Es gibt keine höhere Etage, also könnte er schnell aus dem Fenster springen. Doch auch hier spielt sich anschließend das Gleiche ab. Die Flammen sind zu hoch, um darüber zu springen. Er weiß keinen Ausweg mehr und dreht sich panisch im Kreis. `Ich muss raus, egal wie´, denkt er. Zögernd geht er ein paar Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen. Dann stürzt er sich mit voller Kraft gegen das brennende Fenster, in der Hoffnung durch die geschlossenen Scheiben zu kommen. Doch er spürt eine Wucht, als wenn er gegen eine Wand läuft. Jetzt hat ihn das Feuer ergriffen und lodert überall an seiner Kleidung, sodass er sich schreiend vor Schmerzen und Panik auf den Boden wälzt. Hastig steht er auf, greift zur Bettdecke, um sich damit zu bedecken und schreit um Hilfe.

Er schafft es schließlich, die Flammen mit der Decke zu ersticken, aber die Schmerzen auf seiner Haut sind kaum zu ertragen. Voller Entsetzen muss er feststellen, dass an anderen Stellen im Zimmer weiterhin die Flammen emporschießen.

Plötzlich Klänge, Flötentöne, dann ein Trommeln, das immer schneller wird. Schemenhaft glaubt er im Feuer wieder den Wolf zu erkennen. Doch er rührt sich nicht. Als er ihn weiter anstarrt, hebt das Tier den Kopf und gibt ein Heulen von sich, das Montorro Lenardo das Blut in den Adern gefrieren lässt. Vor Schreck und Entsetzen wie gelähmt, dem Wahnsinn nahe, schreit er noch einmal verzweifelt um Hilfe.

Dann gibt ihm der Gedanke an das Handy neue Hoffnung. Warum hatte er denn nicht schon früher daran gedacht? Der nächste Nachbar ist nur etwa drei Minuten zu Fuß entfernt – vielleicht ist ihm das Feuer aufgefallen und es ist schon jemand unterwegs, um ihn zu retten.

Fieberhaft sucht er nach diesem Ding und findet es schließlich unter dem Bett. Er muss es wohl beim hektischen Umherlaufen versehentlich runter geworfen haben.

Auch das Handy ist heiß, aber jetzt nimmt er das schon fast nicht mehr wahr. Wichtig ist, dass es funktioniert. Hastig tippt er die Nummer seines Nachbarn. Es meldet sich eine Männerstimme.

„Mr. Handerson, bitte kommen Sie schnell. Hier passiert etwas Merkwürdiges“, brüllt er hinein. Überall tauchen aus dem Nichts Flammen auf. Und ein Wolf war hier – hören Sie diese Trommeln?“ Montorro spricht so schnell, dass sich seine Worte fast überschlagen. Dann wird er vom Feuer eingeschlossen und es gibt kein Entrinnen mehr für ihn.

 

 

 

 

 

Langsam löscht Ayatéh das Feuer in seiner Felsspalte.

Doch das Lied des Todes ist noch nicht zu Ende. Es trägt eine Forderung mit sich und Ayatéh weiß, dass auch er darin gefangen ist.

 

 

 

 

                                                                                                            *

 

 

Der alte Tacheenie Shimasani doo Shicheii, kurz Tacheenie genannt, ist nicht zu Hause, doch sein Hund liegt auf der kleinen Veranda. Neben ihm steht ein Topf mit Wasser, den er versehentlich umwirft, als er den jungen Mann kommen sieht. Freudig begrüßt er Ayatéh.

Der Hund ist eine Promenadenmischung, der irgendwann einmal Tacheenie hinterherlief und seitdem nicht mehr fortging. In seinen noch jungen und verspielten Jahren hält er den alten Mann auf Trab.

Als Ayatéh feststellt, dass niemand zu Hause ist, lässt er sich auf den alten, weißen Schaukelstuhl nieder, von dem hier und dort schon die Farbe abblättert.

Langsam streckt er die Beine aus, reibt seine müden Augen und faltet schließlich die Hände im Nacken zusammen.

Die Luft flimmert unter der erbarmungslos brennenden Sonne und scheint alles auszutrocknen. Überall liegt feiner roter Sand. Auf dem Geländer, den Stiefeln und in seinen schwarzen Haaren, die ihm bis zur Hüfte reichen.

So warten sie nun beide, und als er eine kleine Spinne sieht, die sich gerade ein Netz am Geländer gebaut hatte, erinnert sie ihn an eine Geschichte:

Sie handelt von einer Spinne, die gewarnt wurde, als Geschöpf der Erde und des Himmels, das sie war, niemals in die Nähe des Wassers zu gehen. Aber sie war neugierig und sie suchte einen Teich auf. Als sie ihr Spiegelbild auf der Oberfläche des Wassers sah, erschrak sie, denn sie empfand sich als große, hässliche Kreatur, mit dickem, schwarzen Körper und dünnen Beinen. Wie schön waren dagegen die anderen Tiere. Ein bunter Fisch schwamm vorüber und selbst das Quaken eines Frosches empfand sie als schön und eine Ente landete anmutig aus der Luft.

Sie wurde furchtbar traurig und weinte sehr, sehr lange, sodass sie vergaß, sich um Nahrung zu kümmern. Alle anderen Spinnen waren eifrig dabei, sich ihre Netze zu weben, doch sie dachte nur daran, anders zu sein. Sie wollte schön und bunt sein wie dieser Fisch und schön singen können, aber ihre Stimme war dünn und hörte sich an, wie das Rascheln zweier Blätter im Wind. Das gefiel ihr nicht und sie übte und übte, aber ihre Stimme änderte sich nicht. Sie drückte den schwarzen Körper gegen einige rote Beeren, um schöner auszusehen, aber davon wurde er nur klebrig. Auch das Fliegen übte sie ständig ohne Erfolg und so verging die Zeit. Sie dachte nur noch daran, anders zu sein und so war sie mit sich selbst nie zufrieden. Auch, dass sie vorher glücklich gewesen war, vergaß sie. Sie wurde immer deprimierter, weil ihr nichts gelang. Nach langer Zeit bekam sie Hunger, doch das, was sie vorher gut konnte, hatte sie inzwischen verlernt. Sie wusste nicht mehr, wie man ein Netz webt und es war ihr peinlich, es vor den anderen Spinnen zuzugeben. Sicher hätten sie ihr geholfen, aber sie suchte immer nach Ausreden. Alle anderen Tiere gaben ihr Ratschläge, mit denen sie nichts anfangen konnte. Sie hungerte sehr und wusste nicht, was sie tun sollte.

Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als es vor ihren Artgenossen zuzugeben. Sie schluckte ihren Stolz hinunter und sagte: „Ich habe es vergessen!“ Und das war die Wahrheit. „Was soll ich tun? Wie geht es weiter? Bitte, helft mir.“ Das zu sagen, viel der Spinne schwer, aber dann zeigten ihr alle anderen, wie es gemacht wird. Bald konnte sie wieder selbst weben und hatte nun Freunde. Sie war zufrieden mit dem, was sie tat und sie hatte gelernt, sich selbst anzunehmen, so wie sie ist.

Ayatéh nimmt das Singen der Vögel wahr. Auch sie scheinen zufrieden zu sein und selbst der Hund strahlt eine innere Ruhe und Gelassenheit aus.

Als Tacheenie kommt, ist es soweit. „Ich habe dich lange nicht gesehen, was führt dich zu mir?“ Er lächelt nicht wie sonst, wenn er Ayatéh begrüßt, sondern nimmt seinen alten modrigen Hut ab und streicht mit leicht zittriger Hand über sein schütteres langes graues Haar.

Weil er immer noch größere Wanderungen unternimmt, merkt man ihm sein stolzes Alter von sechsundachtzig Jahren nicht an, trotz der vielen Furchen in seinem Gesicht.

„Ich möchte dir etwas Wichtiges sagen“, kommt Ayatéh gleich auf den Punkt.

„So? Gut“, sagt der ältere Mann, geht ins Haus und holt noch einen Stuhl herbei. Doch der Besucher bleibt stehen und sucht nach Worten.

„Ich kann nicht mehr dein Schüler sein.“ Er wirkt bedrückt.

„Warum nicht?“ fragt der alte Mann, obwohl er die Antwort zu wissen glaubt.

„Ich bin es nicht würdig. Ich habe etwas Schlimmes getan“, gesteht Ayatéh. „Ich bin zu jung, um deine Weisheit zu besitzen.“ Er hat Respekt vor diesem Mann, der in seinem Alter noch so rege ist. Aber wie nur bringt er ihm bei, was geschehen ist? Dass er die heiligen Lehren missbraucht hatte und sich über jedes Tabu hinweg gesetzt hatte.

Tacheenie will ihm seine Verlegenheit nehmen. „Ich weiß, was du getan hast und ich hatte gehofft, du würdest es nicht tun. Ich habe für dich gebetet, damit dir Einsicht gegeben wird. Ich habe Boten zu dir gesandt, damit sie dir Frieden bringen und ich habe hasteyalti3 gebeten auf dich aufzupassen, denn was du getan hast, war sehr gefährlich.

Ich habe darum gebeten, dass dir nichts zustößt, dass er dich segnet, damit das Gute in dir wiedererweckt wird, das dir gegeben wurde.“ Doch seine Gedanken sind von Sorge erfüllt.

Fast ein Tag ist seitdem vergangen, die glutrote Mittagssonne steht hoch am Himmel, doch hier auf der kleinen, hölzernen Veranda spendet ihnen die alte Wellblechüberdachung etwas Schatten.

Der alte Mann teilt Ayatéh seine Sorgen mit. „Es ist so, wie es ist und es ist deine Entscheidung. Es ist dein Leben und es ist dein Weg. Ich kann dir helfen, aber Entscheidungen musst du selbst treffen und dazu gehört die Verantwortung. Wenn du die Verantwortung auf dich nehmen willst, musst du auch damit leben und zurechtkommen. Ich weiß, was du durchgemacht hast, aber ist es ein Grund Gott die Entscheidung zu nehmen? Sich über ihn hinwegzusetzen und an seiner statt zu richten? Irgendwann wird sich jeder stellen müssen und nur Gott weiß, wann die Zeit gekommen ist. Irgendwann wird Gerechtigkeit geschehen, aber das zu entscheiden liegt nicht in unserem Ermessen.

Doch du hast es getan und ich hoffe, du kannst damit leben. Überlege dir jetzt gut, was du tun willst, damit du den Halt nicht völlig verlierst. Ich werde dich als Schüler nicht abweisen, denn ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Du kannst mit Anderen weinen und lachen und du respektierst jeden so, wie er ist. Du bietest bereitwillig deine Hilfe an, auch wenn du dafür Opfer bringen musst. Keine Arbeit ist dir zu viel und du hast Augen für die schönen Dinge im Leben. Du achtest alles Lebendige und hast Ehrfurcht vor den Geschöpfen Gottes. Es ist nicht alles verloren und ich hoffe, dass du Zufriedenheit findest. Wenn du weiter zu mir kommst, werde ich dir helfen.“

Ayatéh streicht über den Kopf des Hundes, der die ganze Zeit neben ihm steht und seine Aufmerksamkeit fordert. Seine Gedanken drehen sich im Kreis. Wie wird es weitergehen?

Atse'ma'ii18 hat die Geister gesandt und fordert von mir einen Tribut“, erklärt im Ayatéh.

„Du hast ihn gerufen, nun musst du dich ihm stellen.“

Ein langes Schweigen entsteht. „Ich werde für deinen Frieden beten“, sagt Tacheenie mit seiner rauen, brüchigen Stimme. Dabei lässt er sich langsam auf dem Schaukelstuhl nieder.

„Ich muss erst Ordnung in mein Leben bringen.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Und ich glaube, ich fange in meiner Bude an.“

 

                                                                                 

                                                        *

 

 

 

Ayatéh öffnet das kleine Fenster, sodass der Käfer endlich den Weg in die Freiheit findet. Dann nimmt er sich ein Glas Wasser und trinkt es in kleinen Schlucken aus. Das frische Wasser tut ihm gut, nach diesem heißen Sommertag, denn es erfrischt und kühlt seinen trockenen Mund. Noch mit dem leeren Glas in der Hand lehnt er sich gegen die Wand und sieht sich um. Er hat einen Sinn für Ordnung und alles liegt auf seinen Platz. Bei den wenigen Habseligkeiten ist das auch kein Problem, denkt er. Aber er mag kein Chaos, weder in seinem Wohnraum noch woanders. Am wenigsten in seinem Leben.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, rutscht er in die Hocke. Sein Leben zu ordnen, ist schon weitaus schwieriger. Er denkt an die Spinne in seiner Geschichte. Er wollte zwar nie anders sein, aber er hat sich um viele andere Dinge, vielleicht auch unwichtige, gekümmert, sodass das Wesentliche unbemerkt an ihm vorbeigegangen ist. Was ist wichtig? Was ist unnütz? Gibt es etwas Unnützes? Vielleicht kann man ja auch davon lernen. Dann verwandelt sich das Unnütze in Nützliches. Etwas, was auf den ersten Blick keinen Sinn ergibt, kann sich irgendwann einmal als sinnvoll erweisen. Diese Erfahrung hatte er schon oft gemacht, denn sein Feingefühl für alles, was ihm in seinem Leben begegnete, brachte ihm neue Erkenntnisse, gute wie schlechte. Das Leben ist ein Lernprozess, ein Rhythmus. Er fragt sich, wie es jetzt in seinem Leben ist. Er hat das Gefühl, dass etwas stehen geblieben ist, so, als ob ihm jemand ein Stoppschild hinhält: bis hierhin und nicht weiter. Während der Fahrt hatte jemand anders für ihn die Bremse gezogen. Die Spinne war am Ende der Geschichte so weit, dass sie sagen konnte: Ich weiß nicht mehr weiter. Wie webt man ein Netz? Bitte, helft mir. Ayatéh fühlt sich wie am Ende seines Lebens. Sollte er sagen: `Ich weiß nicht mehr weiter. Ich weiß nicht mehr, wie man lebt. Wollt ihr mir helfen? ´

Er steht auf und nimmt die beiden Läufer vom Bretterfußboden. Nachdem er sie ausgeklopft hat, fegt und wischt er die zwei kleinen Zimmer in dem Haus.

Er hatte lange nichts gegessen. Fasten ist wichtig vor einem bedeutsamen Ritual, aber das liegt hinter ihm. Das Wasser hatte ihn gestärkt, aber Hunger verspürt er immer noch nicht. Trotzdem will er heute Abend seinen Freund Nick besuchen. Seine Frau würde ihm wie immer etwas zu Essen hinstellen und bei ihrer Kochkunst konnte er meistens nicht widerstehen.

Nach seiner Arbeit geht er ums Haus und sieht nach, ob irgendwo etwas ausgebessert werden muss. Tatsächlich bemerkt er unten im Holz ein Loch. Es sieht aus, als ob sich ein Nagetier hindurchgefressen hatte.

Da ruft jemand seinen Namen. Ayatéh blickt sich um und sieht Dusty auf einem Fahrrad. Nachdem er es ins Gras gelegt hat, geht er auf seinen Freund zu.

„Gut, dass du zu Hause bist“, sagt er etwas außer Atem. „Denn ich brauche deine Hilfe.“

„Ah, ja? Dann gehen wir rein.“

Kaum hat Dusty sich gesetzt, trägt er auch schon sein Anliegen vor: „Laura ist krank, vielleicht kannst du ihr helfen.“

„Nein, es geht nicht.“ Ayatéh wirkt bedrückt, als er das sagt, denn er ist trotzdem besorgt. „Ich werde es nicht mehr tun, Dusty.“

 

Dusty denkt über seinen Freund nach, der sich in letzter Zeit sehr verändert hat. Trotz des Altersunterschieds von zehn Jahren zählt Ayatéh zu seinen besten Freunden. Dusty selbst hatte mit seiner ruhigen, gutmütigen Art schon oft Ayatéh zügeln können, wenn sein Temperament überhand genommen hatte, denn Ayatéhs ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit hatte ihn oft zu spontanen und unüberlegten Handlungen veranlasst. Dusty war immer der ruhende Pool gewesen, der versucht hatte, aufkommende Probleme mit ihm sachlich zu lösen. Doch stets war sein Freund hilfsbereit. Deshalb ist er erstaunt über diese Reaktion. Er weiß nicht, was er von der Antwort halten soll, denn diese Art kennt er von Ayatéh nicht und eine Zeit lang schweigen sie. Irgendetwas scheint vorgefallen zu sein, das sagt ihm sein Gefühl. Vielleicht hat es damit zu tun, was damals seiner Familie widerfahren war. Warum hatte er sich ihm nicht anvertraut?

Schon lange ist der Glanz aus Ayatéhs Augen verschwunden und auch nach diesem schelmenhaften Blick sucht er vergebens. Oft hatte er dieses verschmitzte Lächeln, das ihn verriet, dass sein Freund etwas im Schilde führte. Was ist von Ayatéhs Temperament noch geblieben? Sein merkwürdig ruhiges Verhalten lässt auf eine gewisse Gleichgültigkeit schließen. Dabei war er es immer gewesen, der versucht hatte, diese Menschen im Reservat aus ihrem monotonen Trott herauszubringen, sie aufzuwecken, zu motivieren.

Dusty denkt an seine Tochter. „Aber du weißt doch noch nicht einmal, was Laura fehlt.“

„Ich nehme an, sie hat starken Hautausschlag, denn ich habe es schon vor ein paar Tagen bemerkt. Wahrscheinlich ist es schlimmer geworden, wie bei Mandy. In letzter Zeit kommt so etwas hier öfter vor. Am besten, du bringst sie ins (Health Service Hospital.4“)

„Du weißt, wie weit es entfernt ist“, antwortet Dusty halb verzweifelt, halb enttäuscht. „Sie braucht jetzt Hilfe. Sie hat sich heute Nacht blutig gekratzt. Laura hat mich gebeten, dich zu holen, denn sie hat Vertrauen zu dir und kennt dich. Was soll so ein kleines, sechsjähriges Kind im Krankenhaus? Abby und ich wissen nicht mehr, was wir tun sollen. Jetzt hat sie auch noch starke Kopfschmerzen bekommen.“

Von Ayatéh kommt keine Reaktion. Sein Schweigen vermittelt Dusty das Gefühl, unerreichbar zu sein. Noch immer auf eine Erklärung wartend, starrt er seinen Freund verständnislos an.

„Bitte, gib mir wenigstens eine Antwort. Willst du, oder kannst du ihr nicht helfen? Warum sagst du nichts? Ich möchte wissen, was du jetzt gerade denkst.“

„Ich denke, vielleicht kannst du ihr erst mal Aspirin geben.“

Dusty kneift die Lippen zusammen und schüttelt kaum merklich den Kopf. „Okay, alles klar – entschuldige, dass ich dich aufgesucht habe. Ich weiß zwar nicht, warum du dich weigerst, aber ich akzeptiere es.“

Hastig steht er auf und verlässt das Haus. Als er sich aufs Fahrrad schwingt, kommt Ayatéh ihm hinterher gelaufen, denn so will er seinen Freund nicht gehen lassen.

„Warte“, ruft er, doch Dusty fährt los.

„Dusty, bitte!“ versucht er ihn noch einmal aufzuhalten.

Schließlich hält er an und dreht sich um. Ayatéh läuft ihm mit schnellen Schritten nach. „Es gibt eine Pflanze, die die Kraft besitzt, Lauras Leiden zu lindern. Mehr kann ich nicht tun und ich fürchte, dass auch Tacheenie gegen diese Krankheit nichts ausrichten kann.“

„Ist es wirklich das? Ich glaube, da ist noch etwas anderes, weshalb du so zurückweisend warst. Du sagtest, du wirst es nicht mehr tun.“

„Das ist eine andere Sache. Ich werde diese Pflanze besorgen und mache mich sofort auf den Weg, aber die Krankheit selbst wird sie nicht heilen können. In etwa einer Stunde bin ich bei euch.“

Dusty nickt etwas beruhigter und fährt davon.

 

 

 

Die Sonne brennt erbarmungslos herab und hinterlässt ein Licht, das die roten Felsen in einen leuchtenden Schimmer taucht. Zügig läuft Ayatéh zum Hügel, denn von dort ist es nicht mehr weit bis zur Pferdekoppel. Daneben stehen etwas verstreut einige kleine Häuser aus einfachen Brettern gebaut. Hier lebt Joe Lancer, der nichts dagegen hat, wenn sich jemand aus dieser Gegend ein Pferd schnappt, denn schließlich fühlen sich auch diese Menschen hier für die Tiere mitverantwortlich. Vor allem die Kinder kommen oft, um sie zu versorgen. Natürlich wollen sie auch ihr Vergnügen und üben einige Kunststücke auf den Rücken der Pferde, was nicht gerade ungefährlich ist. Irgendwann im Jahr denken sie sich dann ihren besonderen Tag aus, an dem sie allen Erwachsenen ihr Können präsentieren wollen. Schließlich träumt fast jeder Junge davon, einmal auf einem Rodeofest mitzumachen.

Der Zusammenhalt in dieser Gemeinschaft ist gut, denn hier kennt man sich. Vielen sind die Begriffe dein und mein fremd und großzügig wird geschenkt und geteilt.

Ein junger, gescheckter Appaloosa kommt sofort auf ihn zu getrabt. „Diesmal möchte ich zu Lucy“, gibt er dem Pferd zu verstehen, klopft ihm sanft an den Hals und geht zu einem anderen, bindet ihm ein einfaches Halfter um und führt es aus der Koppel. Mit einem Schwung sitzt er auf dem Rücken und galoppiert davon.

Je länger er reitet, desto mehr verändert sich die Landschaft. Jetzt überwiegt das Grasland und ein verschlungener Pfad führt ihn schließlich zum Ziel. Hier ist seine Heimat, hier kennt er sich aus und fühlt sich wohl. Ein verdorrtes, fast vergessenes Land, doch er liebt es.

Langsam lässt er sich vom Pferd gleiten, tätschelt es kurz und läuft zu Fuß weiter zwischen großen und kleinen steinigen Hügeln, bis er sein eigentliches Ziel erreicht hat. Er braucht nicht lange zu suchen, dann hat er die richtige Pflanze gefunden.

„Ich komme zu dir, weil ich dich brauche. Ich werde vorsichtig sein und deine Wurzeln nicht beschädigen“, entschuldigt er sich auf Dené, der Sprache seines Volkes.

Ayatéh hatte viel über Heilpflanzen gelernt. Für ihn sind sie lebendige Mitgeschöpfe und er hat Ehrfurcht vor ihnen. Durch ihre besondere Gabe konnten sie schon vielen Menschen helfen. Sich dieses Wissen anzueignen war eine große Aufgabe und er ist dankbar dafür, auserwählt worden zu sein.

Es waren inzwischen schon vier Jahre vergangen, als Tacheenie, einer der Ältesten und ein angesehener hataalii, zu ihm gekommen war und ihn gefragt hatte, ob er sein Schüler werden wolle. Er kannte Ayatéh gut und hatte ihn oft beobachtet. Es war ihm aufgefallen, dass er stets hilfsbereit war, wie sehr er sich um alte und kranke Menschen kümmerte. Er hielt immer sein Wort und hatte ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit. Tacheenie kannte schon lange seine Familie und ihre Clans. Sie waren aufrechte Menschen, ehrlich und zuverlässig.

Doch eines Tages kam auch die Zeit, wo er etwas über die bösen Mächte lernen sollte. Wozu?, hatte Ayatéh wissen wollen, denn er wollte nur Gutes vollbringen.

„Zum Guten gehört auch das Böse. Vielleicht wirst du einmal damit konfrontiert und dann solltest du nicht machtlos sein, sondern dich auskennen, damit du gegen sie vorgehen kannst, dann können sie niemandem etwas anhaben. Das ist sehr wichtig.“ Diese Worte sind ihm in Erinnerung geblieben.

So hatte Ayatéh alles von ihm gelernt, was nötig war, um anderen Menschen zu helfen. Niemals hätte er damals geglaubt, dass er diese bösen Mächte einmal selbst rufen würde. Er hatte sie gerufen, damit sie ihm helfen und sie waren gekommen. Er hatte keine Angst gehabt, denn dieses Gefühl war ihm fremd geworden. Doch die Melodie des Todes trug eine Forderung mit sich: Es wird ein bilagaana sein, ein Weißer, dessen Tod Atse’ma’íí fordert. Ayatéh soll ihn ausliefern, ihn töten und er wird ihm schon bald begegnen.

Manchmal fühlt er sich wie ein Stein, hart und kalt. Es gibt Tage, da will er alleine sein und dann wieder kann er das Alleinsein nicht ertragen und sucht die Gesellschaft seiner Freunde.

Er weiß nicht, wie es weitergehen soll, vielleicht wird er die guten Geister des Windes fragen.

 

 

 

                                                                                                                            *

 

 

 

 

„Mr. Nelson, darf ich Sie mit Mr. Watkins vom FBI bekannt machen, er ist beauftragt ...“, weiter kommt Betty Dale nicht.

„Ich weiß Bescheid, danke“, unterbricht Nelson sie. Er steht auf und reicht dem jungen Mann die Hand. „Bitte nehmen Sie Platz, ich habe auf Sie gewartet.“

Die Frau, die ihn begleitet hatte, wendet sich zum Gehen, doch sie wird von ihrem Chef zurückgerufen.

„Ach, Mrs. Dale, sind Sie bitte so nett und kochen uns eine Tasse Kaffee?“

„Ist schon aufgesetzt“, lächelt sie und geht wieder auf ihren Platz.

„Was wären wir ohne diese gute Fee“, lächelt auch Bruce Nelson und fährt gleich fort: „Hatten Sie eine gute Fahrt?“

„Danke, ja, eine einsame Gegend“, antwortet David Watkins, ein junger Beamter, den man aus Denver geschickt hatte.

„Ich möchte gleich zur Sache kommen“, gibt sein Gegenüber zu verstehen, nimmt sich eine Zigarette und bietet auch seinem Kollegen eine an.

„Nein, danke“, lehnt David Watkins ab, denn er hatte es schon vor zwei Jahren aufgeben, nachdem sein Vater an Lungenkrebs gestorben war. Seitdem achtet er genau auf alles, was er zu sich nimmt. Aber es spielte sich in seinem Inneren noch mehr ab. Fast schleichend entwickelte sich ihm ein anderes Bewusstsein seiner Umwelt gegenüber. Jetzt interessiert er sich mehr für die psychologischen Hintergründe einer Tat.

Bruce Nelson ist ein schmächtiger Mann älteren Jahrgangs, dem der harte Job als Officer stets zu schaffen machte. Dies zeichnen tiefen Furchen in seinem Gesicht. Er inhaliert den Rauch seiner Zigarette und stößt ihn langsam zur Seite aus. Dann lehnt er sich zurück und schlägt die Beine übereinander. Nun kann er seinen Auftrag abgeben. „Sie haben die Unterlagen gelesen. Es ist ein schwieriger Fall. Sie bekommen unsere volle Unterstützung. Ich werde versuchen Ihnen weiter zu helfen.“ Als er merkt, dass sein Kollege etwas zögert, setzt er fort: „Sie haben sicher viele Fragen.“

Trotz seiner bisher kurzen Beamtenlaufbahn hatte Watkins genug Erfahrung gesammelt, um selbst nahezu aussichtslose Fälle zu lösen. Doch dieses Mal wird er aus der ganzen Sache nicht schlau. „Ja, denn wenn man die Autopsieberichte liest, ist es merkwürdig. Es klingt nicht nach Gewaltanwendung.“

„Da haben Sie recht, doch wenn man diese Männer durchleuchtet, haben sie etwas gemeinsam. Gemeinsame Feinde zum Beispiel. Und was auch interessant ist, ist der Brand im Haus von Montorro Lenardo. Er kam dabei um Leben.“ In seinem schmalen Gesicht spiegelt sich eine gewisse Ratlosigkeit wider.

„Der Name sagt mir nichts.“

Nelson zieht die obere Schublade seines Schreibtisches heraus und reicht dem Kollegen eine Mappe.

„Ein Unfall, so scheint es jedenfalls. Aber er starb in derselben Nacht wie die Anderen. Doch betrachten wir mal alle drei Männer genau. Montorro Lenardo und Larry Carson – einer von den Toten in der Wüste, Sie wissen ...“ Als Watkins nickt, fährt er fort: „Die beiden also standen etwa zwei Wochen vor ihrem Tod vor Gericht, des fünffachen Mordes angeklagt und dazu Mordversuch mit schwerer Körperverletzung. Ein dritter Mann fehlte, wir hatten zu wenig Hinweise und konnten ihn nicht ermitteln. Wir wussten noch nicht einmal seinen Namen und hatten kaum Anhaltspunkte. Gegen ihn lief zusätzlich noch eine Fahndung wegen Vergewaltigung mit Todesfolge. Eine ziemlich brutale Sache.“

„Das hört sich ja schlimm an, was ist daraus geworden?“ will David Watkins wissen, der froh ist, jetzt mehr darüber zu erfahren.

„Die beiden anderen Täter konnte man fassen, weil sie schon registriert waren, aber sie sind aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Einer von denen ist das Brandopfer. Sie hatten stichfeste Alibis, und obwohl der Zeuge sie wiedererkannte – jedenfalls war er sich ganz sicher – kamen sie frei. Die Beweise reichten nicht aus. Es war schon ziemlich dunkel und er könnte sie verwechselt haben, hieß es. Am Tatort fand man Motorradspuren, aber keiner von denen besaß ein Motorrad, doch das sagt natürlich nichts. Die Analyse einer Probe von Erbrochenem konnte man keiner Person zuordnen. Ich werde Ihnen auch die Akte über diesen Fall heraussuchen lassen.“

Nelson gibt eine Anweisung über seine Sprechanlage an seine Sekretärin weiter, die kurze Zeit später mit der verlangten Akte und zwei Tassen dampfenden Kaffees zu ihnen kommt. Der Officer drückt seine halb auf gerauchte Zigarette aus und fährt fort: „Jetzt passen Sie gut auf. Der andere Tote in der Wüste ist Jim Anderson. Nun haben wir herausbekommen, dass dieser Mann das Mädchen vergewaltigt hat. Das haben die Laboruntersuchungen jetzt ergeben.

Also, er ist eindeutig die fehlende Person, die sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hat, da gibt es keinen Zweifel. Es liegt deshalb auch nahe, dass der andere Tote Larry Carson tatsächlich schuldig war. Ich bin davon überzeugt, dass Montorro Lenardo auch dabei war. Ich unterstelle jetzt einfach mal, dass sie sich falsche Zeugen erkauft haben.“

„Stammt das Erbrochene von diesem Anderson?“ fragt Watkins.

„Das dachten wir zuerst, aber seltsamerweise ist es auch nicht von ihm. Weder von den Opfern noch den Tätern oder dem Mann, der sie gefunden hatte.“

„Wer hat sie gefunden?“

„Santo Dolores, der Bruder von Chaka, eines der Opfer.“ Nach einer kurzen Pause fährt er fort: „Aber dieser Fall ist noch nicht abgeschlossen und ich vermute stark, dass es zwischen diesem und Ihren Auftrag einen Zusammenhang gibt und dem müssen wir auf den Grund gehen. Das ist unsere Aufgabe, doch die Navajos haben ihre eigenen Cops und lassen nicht gerne Leute aus anderen Gebieten bei sich herumschnüffeln. Nur die Bundespolizei hat die Befugnis in besonderen Fällen dort noch einzugreifen, aber hier ist das FBI zurzeit überlastet, darum haben wir Sie geholt. Das Ganze spielt sich also weiter im Norden ab.“ Nelson nimmt einen kräftigen Schluck von seinem Kaffee und wartet auf eine Reaktion des FBI-Beamten.

„Wer ist der Zeuge?“ will David Watkins wissen. Er hatte interessiert zugehört und ist gespannt darauf, was ihm der Kollege noch berichtet.

„Der einzig Überlebende. Er wurde schwer verletzt.“

„Da liegt der Verdacht nahe, dass er sich an den Tätern rächen wollte“, vermutet Watkins und glaubt hier einen Ansatz zu finden.

„Ja, aber der Verdacht besteht bei vielen anderen auch. Da gibt es dutzende Leute, die gerne Rache geübt hätten.“

Watkins spürt Schweißperlen auf seiner Stirn und er fragt sich, ob es von der äußeren Hitze oder aus seinem Inneren kommt, denn anscheinend hat er es mit verdammt skrupellosen Mördern zu tun.

„Wo haben die Mörder zugeschlagen? Im Norden sagten Sie?“

„Richtig, in der Nähe von Chilchinbito. Das ist das Problem. Wenn sich jemand an ihnen rächen wollte, wären zwei Tage mit dem Auto nötig gewesen, um in die Wüste zu kommen. Zurück nochmals zwei Tage ergeben vier fehlende Tage, doch jeder von ihnen kann diese Zeit genau belegen. Die Hauptverdächtigen können alle nachweisen, dass sie in den entsprechenden Tagen ganz bestimmt nicht Richtung Süden unterwegs waren. Ich habe sogar noch die Helikopterflüge überprüft.“

„Dann könnte man vermuten, dass jemand den Tod der drei Männer in Auftrag gegeben hat“, ergänzt David Watkins.

„Ja, aber das ist sehr schwierig zu beweisen. Am besten, Sie lesen sich einmal in Ruhe alles durch. Denn, wie Sie schon sagten, es sieht nicht nach Gewaltanwendung aus, aber da ist etwas faul.“

„Haben Sie auch die Bilder vom Tatort in Chilchinbito?“

Der Beamte öffnet erneut die Schublade und kramt eine Zeit lang darin herum. „Eigentlich gehören sie in die Akte“, murmelt er. „Aber ich habe sie mir vorhin schon einmal hervorgeholt und … ah, da sind sie ja!“ Aus einer durchsichtigen Plastikhülle sucht er ein bestimmtes Foto heraus und reicht es David Watkins, der sich mit Entsetzen die Aufnahme vom Tatort ansieht.

„Das ist ja furchtbar, wer sind diese Leute? Wo genau ist es passiert?“

„In ihrem Hogen“, bekommt er zur Antwort.

„Was ist das?“

„Ein Hogen? Ach ja, sie kommen aus Denver. Also, es waren Indianer, Navajos.5 Einige leben noch in diesen traditionellen Behausungen, sie sind klein und rund.“ Er reicht Watkins ein anderes Bild.

„Das ist Chaka Dolores, 48 Jahre alt. Das Opfer wurde von zwei verschiedenen Kugeln niedergestreckt.“

„Was war er für ein Mann?“

Nelson überlegt einen Moment. „Nun, er war sehr beliebt, er war Mitglied der Stammesregierung.“

„Aha, wissen Sie, wovon er gelebt hat?“ Der FBI-Beamte möchte alles genau wissen, umso mehr Chancen hat er, Zusammenhänge zu finden, um den Tod der beiden Männer in der Wüste zu klären. Denn für diesen Auftrag war er eingeteilt worden.

„Er hatte so eine Art Handelsstation, ein Geschäft oder so ähnlich.“ Nelson überlegt eine Weile, trinkt einen Schluck Kaffee und fährt fort: „Dolores führte es mit einem Freund zusammen. Es gibt dort alles Mögliche, meistens gebrauchte Sachen. Es liegt im Reservat, dort kaufen, tauschen und handeln die Indianer untereinander und was weiß ich. Aber es gibt dort auch Neuwaren und er hatte Kontakte zu guten, seriösen Geschäften für die Touristikbranche.“

Er macht eine kurze Pause, schlürft seinen Kaffee und erzählt weiter: „Unter den Navajos und Hopis sind viele künstlerisch begabt. Dolores hat ihnen Schmuck aus Türkise, gewebte Teppiche, Kachinas und so weiter abgekauft, um es wieder zu verkaufen. In Durango zum Beispiel ist das Mesa Verde und viele Touristen sind interessiert an indianischer Geschichte. Sie kommen, um sich die Ruinen der Anasazi-Indianer anzusehen und geben sehr viel Geld für Kunsthandwerk aus. Das ist für viele von den Navajos die einzige Einnahmequelle. So ergab sich ein Einkommen, mit dem Dolores zurechtkam.“

Jetzt sucht Nelson nach einem weiteren Bild, reicht es Watkins und erklärt: „Das ist Leona, seine Frau.“

Sein Gegenüber sieht sich das Bild genau an. Eine schlanke Frau steht vor einem Hogen und umringt mit den Armen ein kleines Mädchen, das dicht vor ihr steht. „Ist das ihre Tochter?“

„Ja, aber das Bild ist schon älter, das Mädchen war zwölf Jahre alt, als es passierte.“

Watkins trinkt seinen inzwischen kalt gewordenen Kaffee aus und fragt sich, weshalb jemand solch ein unschuldiges Kind töten konnte.

„Wann ist es passiert?“

„Am 12. Januar, also vor ca. fünf Monaten“, gibt ihm Nelsen Auskunft.

„Weiß man etwas über ein Motiv?“

„Motiv; tja, da tappen wir leider völlig im Dunkeln. Die drei Männer kamen am Abend in den Hogen gestürmt und haben um sich geschossen.“

Dann folgen weiter Bilder. „Pablo, der jüngere Sohn Dolores, er war sechzehn Jahre. Mit zwei Kugeln niedergestreckt.“

Auf diesem Bild zeigt sich Watkins einen Jugendlichen, der auf einer Autohaube sitzt und lachend beide Arme hoch streckt.

„Jetzt habe ich hier ein Bild von Gavin Dolores. Er musste alles mit ansehen, wurde schwer verletzt und überlebte. Er war der ältere Sohn, zweiundzwanzig Jahre alt. Er hatte damals die drei toten Männer schwer belastet, doch sie kamen bekanntlich trotzdem frei.“

„Hat er einen indianischen Namen?“

Nelson überlegt kurz. „Kann sein, aber sie halten sich uns Weißen gegenüber damit zurück. Den Namen rauszukriegen wird aussichtslos sein.“ Jetzt lenkt er das Thema zurück auf Watkens Auftrag, denn sicher wird er seinen Fall mit diesem verknüpfen, dann wird er das Reservat aufsuchen wollen. „Die Navajos haben ihre eigene Nation und verwalten ihr Land selbst. Natürlich hat die US-Regierung in besonderen Fällen die Oberhand. Jetzt ist dieser besondere Fall eingetroffen. Aber wenn Sie dort sind, hüten Sie sich, denn sie lassen sich nicht gerne ins Handwerk pfuschen. Und sie reden nicht über ihre Verstorbenen. Am besten, Sie gehen behutsam vor und sprechen erst mal mit dem Sheriff dort. Bei weiteren Fragen stehen meine Kollegen und ich Ihnen gerne zur Verfügung. Alles andere steht in den Unterlagen.“

„Okay“, sagt David Watkins und legt die Papiere zusammen. „Ich danke Ihnen für alles. Sie werden dann von mir hören.“

„Bleiben Sie bitte noch sitzen“, bittet ihn Nelson. „Ich möchte Ihnen sagen – es wird nicht leicht werden. Sie müssen vorsichtig sein und taktvoll vorgehen, denn um an Gavin heranzukommen, ist nicht so einfach.“

Noch bevor Watkins nachfragen kann, kommt Betty Dale, um die Tassen abzuräumen. Dabei erblickt sie das obere Bild auf dem Schreibtisch. „Oh, ist das Ayatéh?“ Sie hält mit einer Tasse in der Hand den Kopf etwas verdreht, um das Bild besser zu betrachten. Es ist eine Nahaufnahme, die aussieht, wie die Vergrößerung eines Passbildes. Unter dem Bild ist ein Aufkleber mit dem Namen Gavin Dolores und einer Registriernummer.

„Er sieht gut aus“, stellt sie fest.

„Was?“ Verblüfft wirft Nelson einen Blick auf seine Sekretärin, die neugierig auf dieses Bild starrt. „Wie heißt er?“ Ungläubig über ihr Wissen zieht er zweifelnd seine Stirn in Falten.

„Ayatéh nah-kay-yah Dolores“, kommt die perfekte Aussprache mit der Freude ihren Chef zu belehren, gekonnt über die Lippen. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, ergänzt sie stolz: „Der dem Pfad folgt.“ Dabei ist ihr etwas hochmütiges Lächeln nicht zu übersehen.

„Das hört sich ja fast so an, als ob Sie ihn kennen“, schmunzelt Nelson.

„Oh, nein, nein ... nicht direkt natürlich. Man hört nur so einiges.“

„Nanu, was denn?“ Nelson horcht neugierig auf.

Sie stellt die Tasse ab, legt die Arme angewinkelt nach vorne, krallt ihre Finger und sagt mit verstellter Stimme: „Das er sich in einen Wolf verwandeln kann.“ Dabei fletscht sie ihre Zähne.

„Wie kommen Sie denn an solche Gerüchte?“ lacht Watkins.

„Man spricht auch hier über die mysteriösen Fälle und man hört so einiges. Alle haben vor ihren Tod einen Wolf gesehen, ist das nicht merkwürdig? Die Männer haben vorher telefoniert und etwas von einem Wolf gefaselt und komischen Tönen und so.“

„Und so ...“ wiederholt Nelson. „Nun machen Sie mal einen Punkt. Wir sind hier nicht in einem Gruselkabinett.“

„Okay, sie haben telefoniert, sonst hätte man sie ja nicht so schnell gefunden“, bestätigt jetzt auch Watkins. „Und Gerüchte entstehen schnell. Wer erzählt solche Sachen?“

„Naja, die Leute, die die Anrufe bekommen haben. Die erzählen das überall herum. Das reicht bis zu meinen Ohren.“

„In der Wüste gibt es Kojoten“, stellt Nelson jetzt klar.

„Und in einem brennenden Haus auch?“ fragt Betty Dale.

„Meine liebe Betty, jetzt reicht es aber.“ Kopfschüttelnd warnt er sie, doch die junge Frau zuckt mit den Achseln und geht.

„Unsere Angestellten lassen wir lieber nicht recherchieren, wer weiß, was dabei herauskommt“, scherzt Nelson, der sich jetzt Watkins zuwendet und sich erneut eine Zigarette anzündet. „Die haben wohl zu viel Phantasie. Vielleicht macht ihr auch die schwierige und vor allem ernste Arbeit hier nach fünf Jahren zu schaffen.“ Dann schaut er auf seine Uhr. „Ich habe gleich noch einen Termin, vielleicht kann ich vorher noch eine Mittagspause einlegen, in unserem Beruf darf man nicht allzu hungrig sein.“ Er grinst, rückt sich auf den Stuhl zurecht und räuspert sich kurz. „Was ich Ihnen noch sagen möchte, ohne gleich an das Thema von meiner Sekretärin anzuschließen – ich habe auch schon merkwürdige Dinge gehört, denn ich war dort im Reservat, um etwas herauszubekommen. Es liegt nicht in meiner Befugnis, aber ich wollte mehr erfahren, vor allem über Gavin Dolores. Es war nicht einfach, denn sie sind alle sehr verschlossen. Schließlich fragte ich eine alte Indianerin, die ihn kennt, ob sie mir etwas über ihn erzählen will. Sie sagte: `Hüten Sie sich davor in seiner Seele zu wühlen, dann wecken Sie die Geister auf und das könnte für Sie gefährlich werden. ´Als ich sie fragte, wie sie das meint, hauchte sie mir mit großen Augen ins Ohr: `Er hat es schon mal getan. Nur der Wind war Zeuge. Wenn Sie eine Antwort suchen, dann fragen Sie den Wind. Niemand anders kennt ihn ... niemand!´ Ja, das hat sie mir gesagt, jetzt fragen Sie mich nicht, wie man den Wind fragt.“

David Watkins lächelt und denkt, dass dies jetzt wohl seine Aufgabe sei.

„Ich bekam Warnungen von allen Seiten“, fährt Nelson fort. „Meine Phantasie spielte schon verrückt und ich sah alles Mögliche in Gavin: „Schamane, Zauberer, Geisterbeschwörer, Wolf, Skinwalker. Jemanden, an dem man nicht herankommt. Vielleicht habe ich mich von dem ganzen Gerede anstecken lassen. Jedenfalls war ich auf alles gefasst, aber als ich ihn dann traf, war er ein ganz normaler Mensch.“ Nelson lässt ein mattes Grinsen erkennen. „Warum auch nicht“, ergänzt er. „Na ja, das nur so am Rande, aber Sie sind dort am Ende der Welt und Sie sind alleine. Aber für einen nüchternen Menschen, der den Tatsachen ins Auge sieht, der realistisch vorgeht, dürfte es sicher kein Hindernis darstellen. Ich nehme an, Sie kommen zurecht. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“ Dabei reicht er seinem Kollegen die Hand.

Immer auf dem Teppich bleiben, denkt David Watkins. An was für einen Fall ist er nur geraten? Er nimmt sich vor, ganz normal und sachlich heranzugehen. Was soll dieser Hokus Pokus?

In seinem Hotelzimmer liest er die Berichte aus den Akten, die ihm der Officer gegeben hat, mehr oder weniger flüchtig durch. Dann nimmt er sich noch einmal die Autopsieberichte aus seinem eigentlichen Fall vor, um den Tod der zwei Männer aufzuklären, die man in der Sonora-Wüste gefunden hatte. Seltsam waren die Todesursachen schon. Der eine ist an Herzstillstand durch Sauerstoffmangel gestorben. Er bekam also keine Luft mehr, doch Würgemale am Hals waren nicht festgestellt worden. Ein Herzfehler wurde ausgeschlossen. Etwa zur selben Zeit bekam der Andere plötzlich schwere, innere Magenblutungen, ohne äußerliche Einwirkungen. Keine Verletzung wies darauf hin. Es muss bei beiden sehr plötzlich gekommen sein, denn wenn man krank ist, macht man keine Motorradtour in die Wüste. Beide also zur selben Zeit plötzlich an einer Krankheit mitten in der Wüste gestorben! Man könnte an Vergiftung denken, schmutziges Wasser, giftige Schlangen, verdorbenes Essen. Aber warum waren dann die Todesursachen so unterschiedlich? Und bei der Autopsie war von dieser Art nichts feststellbar. Tatsächlich hatte einer von ihnen mit einer Miss Elenore Richman telefoniert, das konnte man an der Wahlwiederholung feststellen. Doch was hatte er wirklich gesagt? Als Nächstes möchte er sie befragen. Zudem nimmt er sich vor, noch einmal genau den Fundort der Leichen zu inspizieren. Irgendeine Spur oder einen Hinweis musste es doch geben. Er beschließt, das Leben der beiden und auch des Brandopfers zu durchleuchten. Was machten sie beruflich, was war die letzte Tätigkeit? Wie viel Geld hatten sie? Nahmen sie Drogen? Wie war es mit Frauen und so weiter? Er braucht mehr Hinweise und sogleich macht er sich an die Arbeit.

Doch je weiter er im Laufe der Zeit kam, desto sicherer war er: Es führt kein Weg daran vorbei, ins Navajo Reservat zu fahren.

 

 

 

Der Weg von Tucson aus dorthin ist weit und er macht öfter eine Rast. Langsam wechselt die Landschaft. Die riesigen Kakteen verschwinden und er fährt auf einer kurvenreichen Straße durch Waldgebiete. Abwechselnd geht es bergauf und wieder bergab. Je weiter er nach Norden vordringt, desto grandioser werden die gewaltigen Schluchten. Es öffnet sich eine Landschaft, wie im Bilderbuch und doch, David Watkins kann sich in diesem Moment nicht so recht auf die Natur konzentrieren, obwohl er eigentlich zu den Menschen zählt, die einen Sinn für die Schönheiten der Wildnis entwickelt haben. Er hatte sich erst vor ein paar Wochen eine CD gekauft, um Vogelstimmen zu identifizieren. Dazu besitzt er viele Sachbücher, über die amerikanischen Bäume, Tiere und Naturparks.

Doch jetzt denkt er an Gavin. Wie war sein Navajoname? Er hatte es sich notiert – Ayatéh. sprach es die Sekretärin richtig aus? Leise flüstert er den Namen vor sich hin – nah kay yah murmelt er dann weiter. Was muss er gefühlt haben, als er das alles mit ansehen musste? Und wie war ihm zumute, als die Männer vor Gericht freikamen? Wie wird er damit fertig, wie kann er es verarbeiten? So etwas geht an niemandem spurlos vorüber. Und auch die für ihn wichtige Frage: Warum?

Der dem Pfad folgt. – „Welchem Pfad folgst du?“ flüstert er vor sich hin. „Dem deines Volkes oder dem der Rache?“

Um seinen Fall zu lösen, wird er an diese Mordsache anknüpfen müssen, Zusammenhänge finden, Beweise aufspüren und so weiter.

Er legt eine Zwischenübernachtung ein und versucht durch eine interessante Fernsehsendung zeitweilig von der Sache abgelenkt zu werden. Doch dann wandern seine Gedanken wieder zurück zu seinem Mordfall und zu den unheimlichen Geschichten, die man sich erzählt.

Nachdem er vor zwei Wochen das Präsidium in Tucson verlassen hatte, war ihm dort auf dem Parkplatz zufällig Betty Dale, die Sekretärin von Nelson übermden Weg gelaufen und aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte er sie spontan in ein Café eingeladen. In ihrer Unterhaltung war immer wieder der Begriff Skinwalker aufgetaucht. Wer oder was ist das? Ein Geist? Ein Zauberer? Ein Fabelwesen, das sich verwandeln kann, Scherze treibt und mal gut mal böse ist. Als verwandelbares Wesen – mal Kojote, mal in Menschengestalt schleicht es umher und treibt sein Unwesen. Betty Dale hatte ihm von deutlichen Kojotespuren erzählt, die plötzlich einfach nicht weiterführten. Von Gestalten, die sich in nichts auflösen würden. Und – dass Ayatéh sich mit ihm verbündet hätte. Offenbar glaubt sie selbst an all diese Mythen, die die Navajos so erzählen.

Mit so etwas kann David Watkins nichts anfangen, auch wenn es für ihn amüsant war, ihr zuzuhören.

 

 

 

                                                                                                                  *

 

 

 

 

Langsam glättet Ayatéh die rote Erde vor sich und entfernt von ihr die kleinen Steine, bis er zufrieden ist. Er verteilt pulverisierte Holzkohle, zermahlenden Türkis, Gips, Maismehl und Blütenstaub auf dem gesäuberten Boden und fügt sie zu geometrischen Mustern zusammen. Die farbigen Motive formen sich zu religiösen Bildern.

„Hallo Ayatéh, ich dachte schon, du bist nicht zu Hause. Schön, dass ich dich antreffe“, sagt eine ihm bekannte, sympathische Stimme. Schräg hinter ihm steht Sheena, eine junge Frau, die an Schönheit nicht zu übertreffen ist. So jedenfalls empfindet es Ayatéh. In ihrem zarten Gesicht wirken die großen dunklen Augen etwas kindlich, doch ihre schmale Figur zeigt einen schwungvollen Körper.

Sie kennen sich schon lange mochten sich von Anfang an sehr gerne. In letzter Zeit hatten sie sich jedoch kaum gesehen.

Sheena legt ihr langes Haar hinters Ohr und hockt sich zu ihm nieder. Dann mustert sie sein angefangenes Werk.

„Du machst ein Sandbild?“

„Ja“, lächelnd sieht er sie an und setzt seine Arbeit fort. Ihre Nähe ist ihm angenehm und sicher wird bald wieder alles so sein wie früher.

„Was wird es für eines?“ will sie wissen, während sie es genauer betrachtet.

„Wenn du noch etwas bleibst, wirst du es sehen.“

Sie legt eine Hand auf seine Schulter und sagt schmunzelnd: „Ich glaube, du suchst einen Grund, damit ich länger hier bleibe.“

„Natürlich Sheena, ich freue mich, dass du da bist.“

Er mag sie also immer noch. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass er ihr aus dem Weg geht und jetzt ist sie froh darüber, doch zu ihm gegangen zu sein. Eine Zeit lang sieht sie schweigend zu, wie er sein Kunstwerk weiterführt. Sie liebt alles an ihm. Seine Hände, wie sie geschickt die farbigen Figuren formen, seinen schlanken Körper, sein sanftes Lächeln und seine braunen, funkelnden Augen. Die langen, schwarzen Haare sind mit einem Stirnband gebändigt, damit sie ihm nicht im Weg sind.

„Wozu machst du es Ayatéh?“

„Ich weiß es nicht“, gibt er leise zur Antwort.

„Für welchen Zweck?“ stellt sie ihre Frage noch einmal deutlicher. „Ich meine, du machst ein Sandbild und weißt nicht warum?“

„Ich weiß es wirklich nicht, Sheena. Es ist einfach nur so. Ich fertige es nicht mehr für einen Zweck an. Das ist vorbei.“

„Ja ...“, sie überlegt eine Weile und fährt fort: „Es geht das Gerücht um, dass du es getan hast – und wenn es so ist, hältst du dich wohl nicht mehr für würdig es weiter anzuwenden.“

„Bist du gekommen, um mir das zu sagen?“ Ayatéh blickt fragend zu ihr auf.

Sheena mustert seinen Ausdruck. Sie weiß, dass sie ihn verärgert hat. Aber es ist so, er hat selbst an seiner Würde gekratzt, warum gibt er es nicht zu? „Nein, ich möchte dir etwas anderes sagen, aber ich koche erst mal einen Kaffee.“

Sie geht um das Haus nach vorne in den offenen Eingang und setzt in einem alten, ausgebeulten Blechkessel Wasser auf. Kurz darauf folgt ihr Ayatéh. Er lässt sich neben Sheena auf die kleine, alte Couch sinken und lehnt sich zurück.

„Ich möchte die iikáah6 noch machen. Klein und in einem Rahmen werde ich sie an Touristen verkaufen“, sagt er und es klingt fast so, als ob es eine gute Idee wäre.

„An Touristen!“ wiederholt sie etwas spöttisch, schenkt zwei Becher Kaffee ein und meint dann: „Wie kommst du nur auf so etwas? Weißt du Ayatéh, du bist intelligent und hast es nicht nötig auch nur ein Sandbild zu verkaufen. Für dich hat es eine große Bedeutung, aber die Touristen sagen: `Oh, wie nett, was die Ureinwohner sich so einfallen lassen´ und hängen es sich an die Wand. Unsere Sandbilder gehen sie nichts an.“

„Na und!“, entgegnet er. „Ich finde das in Ordnung. Wenn sie sich daran erfreuen, ist es o.k. Was ist dagegen einzuwenden, wenn sie es an die Wand hängen? Vielleicht werde ich es auch machen.“

Doch Sheena möchte jetzt lieber das Thema wechseln. „Ich verstehe dich nicht mehr. In letzter Zeit habe ich oft über uns nachgedacht. Ich komme nicht mehr an dich heran, obwohl du da bist, bist du weit weg. Ich weiß, dass du Abstand brauchst und du hast es ja auch gesagt. Ich verstehe es auch, aber du hast dich verändert, irgendwie kann ich nicht mehr zu dir durchdringen.“

Mit Tränen in den Augen erinnert sie sich an die frühere Zeit. „Weißt du noch? Wir wollten immer zusammenbleiben. Wir liebten uns, aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich von alldem halten soll?“ Zögernd fügt sie leise hinzu: „Und ich liebe dich immer noch.“

Ayatéh hat Schwierigkeiten seine gemischten Gefühle zu analysieren. Sie sind ziemlich turbulent. Im Grunde genommen will er nichts anderes, als mit Sheena zusammen sein. Aber irgendwie kriegt er es nicht auf die Reihe. Wie kann er ihr verständlich machen, dass er sie liebt und braucht – gerade jetzt, aber trotzdem abweisend ist? Es ist schon paradox. Er überlegt, wie er ihr diesen Widerspruch erklären kann.

„Ich weiß Sheena, meine Gefühle sind mir selbst fremd. Ich bin nicht so stark, wie du glaubst. Und ich bin kein Held. Deshalb bin ich es wirklich nicht mehr würdig, das eine oder andere zu machen. Das zu verstehen, ist nicht einfach. Ich denke manchmal ich fühle nichts mehr. Wenn ich einmal schlafen kann, habe ich Albträume und komme nicht davon los. Oft denke ich an das, was passiert ist und ich sehe es immer und immer wieder vor mir.“

Auch für Sheena ist es nicht leicht. Sie fragt sich, was von seiner Stärke, seiner Kraft übrig geblieben ist. Seiner Fröhlichkeit, seinem Lächeln. Wird es jemals wieder so sein wie früher? „Ja, aber inzwischen ist schon ein halbes Jahr vergangen, und du bist da und ich und irgendwie ist alles anders, als es einmal war. Weißt du noch, wie wir gelacht haben und so viel Spaß hatten? Ich denke oft an deine Schwester, vor allem, weil sie immer so fröhlich war und vor Lebensfreude sprühte. Ich werde sie alle immer in guter Erinnerung behalten.“ Während sie das sagt, laufen Tränen über ihr zartes Gesicht und mitfühlend legt Ayatéh einen Arm um ihre Schulter, um sie an sich zu ziehen. Mit dem Finger streicht er sanft eine Träne ab und haucht ihr einen zarten Kuss auf die Wange.

Doch Sheena löst sich von ihm. „Ich habe lange überlegt und bin zu einem Entschluss gekommen. Ich bin ganz sicher und werde mich von niemand abbringen lassen. Ich möchte hier fort und gehe nach Tucson. Dort habe ich eine Wohnung gefunden und die Möglichkeit eine Ausbildung als Erzieherin in einem Kindergarten zu machen. Du weißt, ich bin gerne mit Kindern zusammen und das ist eine Chance, die ich nutzen will.“ Ihre großen Mandelaugen blicken ihn fest entschlossen an.

Ayatéh kennt sie lange genug, um zu wissen, dass er sie nicht umstimmen kann, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Sie ist eine junge Frau, die weiß, was sie will und ihren eigenen Weg geht. Und wenn der Ihrige sich nicht mit seinem kreuzt? Wenn das Schicksal es anders will? Sicher liegt es auch daran, dass er ihr keinen Halt und Geborgenheit geben kann. So hatte er es sich nicht vorgestellt.

Verwirrt blicken seine Augen ins Leere. Er spürt plötzlich, wie sein Herz pocht und zu rasen beginnt. Es kommt so unerwartet, dass es ihn für einen Moment völlig aus der Bahn bringt.

Sheena, die ihn schon vor sechs Jahren in ihren Bann gezogen hatte, war für ihn von Anfang an eine faszinierende Persönlichkeit. Sie waren beide erst sechzehn gewesen und sofort entdeckten sie eine große Sympathie füreinander, die sich etwas später zu einer leidenschaftlichen Liebe steigerte.

„Vielleicht kommst du mit.“ Ihr Vorschlag klingt etwas zögernd, denn sie glaubt nicht so recht daran. „Du könntest dort einen Job finden. In der Stadt kommst du auf andere Gedanken. Es soll ja auch nur für die Zeit meiner Ausbildung sein. Und danach werde ich zurückkommen, um hier etwas auf die Beine zu stellen. Doch im Reservat komme ich nicht weiter, das weißt du selbst.“ Etwas verlegen versucht sie seinen starren Blicken auszuweichen, doch es gelingt ihr nicht. In seinen Augen spiegelt sich eine Verlorenheit, die sie kaum aushalten kann.

Er sieht sie lange und mit so glühender Intensität an, dass sie wie benommen davon ist. Jetzt ist da dieser Blick wieder in seinen Augen, nachdem sie sich so sehr gesehnt hatte, dem keine Feinheit entgeht – dieser aufrichtige, liebende Blick, der bis in ihr Herz dringt und alles verzaubert.

„Ich komme nicht mit Sheena und du weißt warum. Ich liebe dieses Land – und dich!

 

 

 

 

                                                                                                                    *

 

 

 

 

Nachdem David Watkins sich mit dem Officer in Kayenta unterhalten hatte, sucht er jetzt das Geschäft von Chaka Dolores auf. Vor dem Eingang ist ein dickes Geländer aus Holzbalken, auf dem sich einige Navajos niedergelassen haben. Es sind Jugendliche, die sich angeregt unterhalten.

Das Haus ist in einem Blockhausstil hergerichtet und sieht neu und einladend aus. Sein Auto parkt er auf einen Platz mit einigen kleinen Schottersteinen rechts neben dem Haus, der wohl als Parkplatz dienen soll. Als er die drei Holzstufen hinaufgeht, liest er den Namen Butterfly handgeschrieben über der Eingangstür. Auch die Inneneinrichtung besteht aus viel Holz und auch die Stützbalken sind sichtbar. Es sieht sehr einladend aus und gleich links neben dem Eingang stehen einige Tische und Stühle, was darauf schließen lässt, dass es sich um ein kleines Café handelt. Ein älterer Mann sitzt dort und liest eine Zeitung.

Daneben befinden sich Tische und einige Tresen, auf denen unterschiedliche Ware zum Verkauf angeboten wird. Von Büchern über Kleidung, Spielzeug, Musik und so weiter. Alles ist ordentlich ausgelegt und mit vernünftigen, günstigen Preisen versehen. Weit und breit ist jedoch kein Kunde zu sehen und so geht er direkt auf den Inhaber zu, um ihm einige Fragen zu stellen. Er lässt sich Unterlagen zeigen und führt ein ausgiebiges Gespräch mit dem stämmigen Mann, der sich mit Charly Barrow vorgestellt hatte. Doch als David nach Gavin Dolores fragt, bekommt er zur Antwort, der wohne meist bei Freunden, mal hier mal dort. Wo er sich jetzt gerade befindet, weiß wohl niemand so genau.

David Watkins macht sich auf den Weg nach Chilchinbito, um ihn aufzusuchen. Doch als er dort ankommt und einige Leute am Straßenrand fragt, sagen sie ihm, dass sie Gavin nicht kennen. Ein anderer sagt ihm später, er wüsste nicht, wo er wohnt. So beschließt er, sich noch einmal auf dem Weg zum Butterfly zu machen, um den Betreiber noch etwas zu fragen. Unterwegs dorthin in Richtung Rough Rock rollen ihm einige Tumbleweeds über die Straße, die berüchtigten, vertrockneten Grasbüschel, die er schon so oft in den Westernfilmen gesehen hat und die ihm irgendwie ein Gefühl von Einsamkeit und endloser Weite vermitteln.

An einer Tankstelle macht er Halt, um aufzutanken, dabei fragt er an der Kasse noch einmal nach Gavin. Etwas abseits hinter der Kasse steht Sheena und noch bevor der Mann hinter dem Tresen antworten kann, sagt sie schnell: „Gavin ist nicht zu sprechen.“

„Ah, ja? Das bestimmen Sie?“

„Ja!“

„Soll ich erst um eine Audienz ersuchen?“

„Da ist die Tür!“ Mit ausgestrecktem Arm weist sie in die Richtung der Tür. „Und schließen Sie sie von außen.“

Überrumpelt von dieser unerwarteten, schroffen Abfuhr, tut er, was sie sagt.

Als er sich wieder ins Auto setzt, fährt ein Wagen an die Zapfsäule heran, ein Mann steigt aus und tankt. Watkins erblickt auf dem Nebensitz einen kleinen Jungen, der aus dem offenen Fenster sieht. Er scheint alleine im Auto zu sitzen, und als der Mann ins Kassenhaus geht, läuft Watkins schnell zu dem Jungen hin. Ein Kind! Ein kleines Kind ist naiv und ehrlich.

„Hallo!“ David Watkins lächelt und bückt sich zu dem Jungen hinunter.

„Hallo“, sagt auch der Junge und sieht ihn fragend mit seinen großen, brauen Augen an. Watkins wirft kurz einen Blick ins Kassenhaus, kann aber die junge Frau nicht sehen.

Vielleicht weckt er mehr vertrauen, wenn er nach Ayatéh fragt. „Sag mal, du kennst doch sicher Ayatéh?“

„Ja, den kenne ich.“

„Kannst du mir sagen, wo er wohnt?“

„Ja ...“

Stille. Watkins wartet gespannt.

„Wo wohnt er denn?“ will er nun endlich wissen. Er glaubt sich am Ziel.

„Mein Papa sagt, er wohnt da, wo der Wind am stärksten weht. Er ist sein Bruder!“

„Vielen Dank, mein Junge, du hast mir sehr geholfen.“ Ratlos steigt er ins Auto und macht sich auf den Weg.

 

 

Dieses Mal sind einige Leute im Geschäft, aber da sie sich noch umschauen, wendet sich Watkins gleich wieder an den Betreiber, der dabei ist, das Innenleben einer Uhr zu durchleuchten.

„Ich möchte Sie noch etwas fragen“, beginnt Watkins, als er dem Mann im Butterfly gegenübersteht. „Sie sagten vorhin, Chaka Dolores war für ein paar Wochen nicht da, hat ihn damals jemand vertreten?“

„Ja, manchmal kam jemand vorbei – wollen Sie ihn sprechen?“ Der Mann deutet mit dem Kopf in eine bestimmte Richtung und nickt leicht.

In einer Ecke am Fenster sitzt ein junger Mann und schnitzt eine Figur aus den Wurzeln einer Pappelart.

Erstaunt geht Watkins langsam auf ihn zu. Er hat ihn sofort vom Bild her erkannt. Es ist das gleiche ausdrucksvolle Gesicht, schmal mit hohen Wangenknochen, typisch für einen Navajo. Trotzdem fragt er noch einmal nach. „Sie sind Ayatéh nakay-yah Dolores?“

„Ja.“ Der Navajo bemerkt, dass der Mann bei der Aussprache seines Namens ziemlich unbeholfen wirkt, sich aber Mühe gibt. Trotzdem imponiert es ihm, denn sicherlich ist er nur unter dem Namen Gavin Dolores registriert.

„Ich bin David Watkins vom FBI und möchte Sie gerne sprechen“, dabei hält er ihm seinen FBI-Ausweis entgegen.

Ayatéh wirft einen kurzen Blick darauf und bietet ihm einen Platz auf dem Stuhl gegenüber an. Zwischen ihnen ist ein Tisch mit einer leeren, benutzten Tasse auf Watkins Seite.

„Es ist schwer, Sie zu finden, kaum jemand gibt Auskunft, können Sie mir das erklären?“ beginnt Watkins ziemlich direkt und schaut dabei zu, wie der Navajo vor ihm sein Messer geschickt an dem Holz entlang gleiten lässt, wobei die Späne auf den Boden fallen.

„Sie sind normalerweise nicht so“, Ayatéh lächelt etwas verlegen. „Jeder kennt mich hier gut und vielleicht wollen sie mich schützen.“

„Schützen? Wovor?“

„Erst kommt ein Sheriff und ein Officer, dann wieder der Sheriff, ein anderer Cop und jetzt ein FBI-Guy und alle graben in meiner Vergangenheit herum. Meine Freunde wollen, dass ich in Ruhe gelassen werde, das ist alles. Eigentlich sind sie sonst auch Fremden gegenüber zuvorkommend.“ Als Ayatéh das sagt, schaut er von seiner Arbeit auf und sieht den Beamten direkt an. Seine hellblauen Augen wirken klar, aber unsicher. Schlagartig spürt Ayatéh, dass dieser Mann der bilagaana7 ist, den er töten und ausliefern soll. Diese Erkenntnis trifft ihn wie ein Blitz und plötzlich scheinen sich die Bewegungen des Beamten wie in Zeitlupe zu bewegen. Es ist ein entsetzlicher Druck, den Atse'ma'ii ihn plötzlich spüren lässt, und gleich eines Gewitters sich im ganzen Körper ausbreitet. Doch Ayatéh reißt sich zusammen und versucht, den Eindruck einer inneren Ruhe zu vermitteln.

 

Watkins ist etwas erstaunt, denn er stellte sich die Begegnung mit ihm anders vor, irgendwie schwieriger. Er hatte sich zuvor über die Navajos und ihr Leben informiert, um gewappnet zu sein und keinen Fehler zu machen. Deshalb ist er etwas überrascht, dass Ayatéh ihm direkt in die Augen sieht, denn das sei bei den Navajos nicht üblich, hieß es. So wollte er eigentlich aus Respekt den Blickkontakt meiden. Seine Stimme ist angenehm ruhig und wirkt gelassen. Irgendwie strahlt er eine innere Ruhe aus. Jedenfalls kommt er ihm nicht vor, wie ein Schamane, der sich in einen Wolf verwandeln kann. Hier in dieser Einöde tauchen wohl schnell solche merkwürdigen Gerüchte auf. Er fragt sich, ob es hier Leute gibt, die tatsächlich an so etwas glauben und kann sich dabei gut vorstellen, dass dies hier ein Land ist, was man irgendwann vergessen hat. Vielleicht brauchen die Leute deshalb solche Geschichten, um in dieser Einsamkeit Abwechslung zu bringen. Aber Watkins kann sich nicht vorstellen, dass wirklich jemand ernsthaft an so etwas glauben würde. Es sind einfach nur Geschichten, die man sich erzählt.

Ayatéh schnitzt an seiner Figur weiter und wartet, was der Beamte zu sagen hat. Geschickt bewegt er immer wieder das kleine Messer in der Hand an dem Holzstück entlang, sodass Watkins sieht, wie es langsam Form annimmt. Die Figur weist einen Schnabel auf, sieht aber bis auf den Kopf menschlich aus. Hinter dem Kopf sind Federn mit fein eingeschnitzten Zeichnungen angebracht und auch hinter den ausgebreiteten Armen sind einige Federn zu erkennen. Zum Teil ist die Figur schon mit Farben versehen worden.

„Darf ich fragen, was Sie da anfertigen?“ fragt David Watkins interessiert, nachdem er Ayaéh eine Weile zugesehen hat.

„Sicher, das wird eine Kachina-Puppe, ein Adler-Tänzer.“

„Was bedeutet sie?“

„Es ist eine Puppe der Hopi. Diese hier soll die bösen Geister vertreiben. Sie ist eine Beschützer-Kachina. Sie verkörpern übernatürliche Wesen und werden für religiöse Zeremonien benutzt. Sie sollen den Kindern des Volkes die verschiedenen Erscheinungsformen dieser Geister, die zwischen Menschen und Göttern vermitteln, nahe bringen.“ Ayatéh hält die Puppe etwas höher, damit Watkins sie besser sehen kann. „Blau, rot und schwarz stehen für das männliche, gelb und weiß für das weibliche Geschlecht. Rot ist zudem die Farbe des Krieges. Aber die Hopi waren nie ein kriegerisches Volk. Sie haben sich noch nicht einmal gegen das Eindringen der Weißen gewehrt.“ Dann setzt er seine Arbeit fort.

„Im ersten Moment wirkt sie etwas unheimlich“, stellt Watkins fest. „Aber wenn man um ihre Bedeutung weiß, ist sie nicht mehr so bedrohlich.“

„Genau, unheimlich ist etwas nur, wenn man es nicht versteht oder nicht verstehen will. Man sollte sich mit der Materie auseinandersetzen, dann sieht man es plötzlich von einer ganz anderen Seite und begreift die Zusammenhänge“, erklärt ihm Ayatéh, der es bemerkenswert findet, dass sich ein FBI-Beamter dafür interessiert.

„Das finde ich persönlich sehr interessant, aber leider muss ich aus beruflichen Gründen etwas anderes interessant finden.“

„Ja, ich weiß, ich habe mir schon gedacht, dass Sie es sind, der kommt, obwohl Sie gar nicht nach einem Beamten aussehen.“ Ayatéh spielt auf die Kleidung von Watkins an, der statt Krawatte mit verwaschenen, einfachen Jeans und ärmellosen T-Shirt aufgetaucht ist.

„Ich fühle mich in diesen Sachen wohler, aber wie meinten Sie das eben – Sie können sich denken, dass ich es bin?“

„Ich habe Sie gesehen, in Chinle. Ich saß in einem Café gegenüber Ihrem Motel und konnte beobachten, wie Sie Ihr Auto gewachst haben. Dadurch kenne ich Sie.“

„Aber Sie haben mich dort nicht kennengelernt, nur gesehen“, klärt Watkins ihn auf.

„Schon, aber man kann jemanden kennenlernen, wenn man ihn beobachtet. Man kann es lernen. Allein die Art und Weise, wie jemand etwas macht, kann viel aussagen. Es ist ein Unterschied, ob jemand mit Gedanken bei der Sache ist und es also voll bewusst tut, oder ob er unkonzentriert ist und an etwas anderes denkt. Wenn man etwas vollbringt, egal was es ist, sollte man auch auf Kleinigkeiten achten, auf alles eben. Damit es gut wird, müssen die kleinen Unebenheiten beseitigt werden. Wenn man sich ablenken lässt, durch Gedanken, die in dem Moment dort nicht hingehören, kann es passieren, dass man hinterher mit der Arbeit nicht zufrieden ist. Deshalb glaube ich, dass ich Sie ein wenig kenne.“

Watkins ist etwas irritiert und erstaunt zugleich, denn eigentlich möchte er etwas über Ayatéh erfahren.

„Und wie habe ich abgeschnitten?“ fragt er neugierig und zugleich etwas belustigt.

„Sie sind ok.“

„Wie beruhigend. Und wie kann man das lernen?“

„Was? Das Beobachten?“

„Ja, ich will ja schließlich beruflich weiterkommen“, scherzt Watkins.

Ayatéh überlegt kurz, während er seine Schnitzerei fortsetzt. „Na ja, gehen Sie doch mal in die Natur hinaus, lehnen sich gegen einen Baum und beobachten. Ich meine richtig beobachten, nicht nur so in der Gegend herum träumen. Und möglichst ohne sich zu bewegen. Einfach nur dasitzen und auf alles achten, was sich regt und bewegt und was Sie hören. Sie werden staunen, was da alles los ist und es ist interessant. Viele Leute fangen irgendwann an abzuschweifen. Sie denken an Vergangenes oder an die Zukunft oder an jemand anderen, doch die augenblickliche Gegenwart wahrzunehmen ist oftmals nicht einfach, aber man kann es lernen. Dann spürt man das Lebendige in dem Baum, an den man sich lehnt.“ Ayatéh sieht von seiner Tätigkeit auf. „Versuchen Sie es doch mal.“

„Das werde ich auch tun. Jedenfalls nehme ich es mir vor, wenn es meine Zeit erlaubt, aber nun bin ich leider beauftragt worden, herauszufinden, wie die Männer, die Sie damals des Mordes beschuldigt haben, ums Leben gekommen sind. Aus diesem Grund bin ich hier und muss Sie jetzt noch einmal mit der Vergangenheit konfrontieren.“

Watkins streicht sich mit der Hand die widerspenstigen Haare aus der Stirn und zieht sich einen Notizblock aus der hinteren Hosentasche.

Die Kachina-Puppe ist noch nicht ganz fertig, als Ayatéh sie auf den Tisch legt. „Wenn ich jetzt weitermache, bin ich nicht ganz bei der Sache“, erklärt er.

„Dann wird sie nicht so gut“, meint Watkins, während er noch mal einen flüchtigen Blick darauf wirft.

„Nein.“

Der Beamte überlegt kurz, wie er am besten anfängt. „Ich möchte mit Ihnen über das sprechen, was vor einem halben Jahr Ihrer Familie zugestoßen ist. Aber, was ich nicht ganz verstehe, warum von fünffachem Mord gesprochen wird. Vielleicht habe ich es im Bericht übersehen, aber ich weiß nur von vier Personen.“ Watkins zählt daraufhin die ihm bekannten Personen auf. Dabei fallen ihm die Worte von Nelson ein: Die Navajos sprechen nicht über ihre Verstorbenen.

„Es war noch ein Baby dabei. Das acht Monate alte Mädchen war die Tochter von Kathrin. Sie war eine Lakota und mit Santo, einem Bruder meines Vaters verheiratet. Meine Familie hat eine Zeit lang aufgepasst, das machten sie öfter mal und ich war gekommen, um das Baby wieder zurückzubringen. So kam es, dass ich dabei war, als es passierte.“

„Mein Gott“, murmelt Watkins leise und er braucht eine Zeit, um sich zu fassen, denn für ihn ist es unverständlich, wie jemand es fertigbringt, ein kleines unschuldiges Baby zu töten. Fassungslos schüttelt er den Kopf und wendet sich dann wieder Ayatéh zu, um etwas mehr zu erfahren.

„Finden Sie es nicht merkwürdig, dass alle drei Männer, die Sie beschuldigt haben, plötzlich gestorben sind?“

„Wahrscheinlich waren die Geister der Rache unterwegs“, kommentiert Ayatéh, denn natürlich ist ihm klar, dass der Verdacht auf ihn fällt.

„Wurden sie von Ihnen geschickt?“

„Finden Sie es heraus.“ Ayatéh ist ziemlich angespannt, lässt es sich aber nicht anmerken. Obwohl es scheint, dass dieser Watkins gegen ihn ermittelt, hat er das Gefühl, dass ihm jemand begegnet ist, der versucht, ihn zu verstehen.

„Warum ist Ihre Familie getötet worden, was glauben Sie?“ Watkins ist sicher, dass es einen Grund dafür gibt.

„Warum?“ wiederholt Ayatéh. „Die Täter standen unter Drogen und Alkoholeinfluss, vielleicht braucht man dann keinen Grund, ich weiß es nicht. Einen so genannten Indianer zu töten gilt vielerorts noch als Kavaliersdelikt. Für uns ist es schon ein Verbrechen, geboren zu sein. Wenn Sie ein Motiv suchen – ich weiß es nicht, hier braucht man keines. Egal, wo Sie herkommen, hier ist es jedenfalls anders. Vor Gericht werden die Mörder freigesprochen.“

David Watkins besitzt zwar die Sensibilität ihn zu verstehen, aber er glaubt an einen Grund.

„Ja, aber ich möchte trotzdem nach einem Motiv suchen und bitte Sie um Ihre Mithilfe. Es ist mein Job, diesen Fall aufzuklären und ich glaube, dass ich hier ansetzen muss.“

„Vergessen Sie es, es führt zu nichts, Sie werden nicht weiterkommen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann.“ Für Ayatéh ist das Thema erledigt. Außerdem möchte er sich von diesem David Watkins distanzieren.

„Also“, beginnt Watkins, ohne zu berücksichtigen, was Ayatéh gerade gesagt hat. „Sie haben nicht vollständig vor Gericht ausgesagt. Warum nicht?“

„Weil man von mir verlangt hat, wirklich alles zu erzählen. Sie wollten ganz genau in jeder Einzelheit alles wissen, wie es sich abgespielt hat. Jemand hat meine kleine Schwester vergewaltigt und ich konnte ihr nicht helfen. Ich höre sie jede Nacht schreien. Wie kann man verlangen, dass ich so etwas genau beschreiben soll? Wie und wann genau wurde das Baby getötet? Wie oft haben sie zugeschlagen? Fünfmal oder zehnmal? Wie kann man so etwas fragen? Glauben Sie etwa, dass ich es zählte? Sie wollten wissen, wo und wie Chaka niedergestreckt wurde und wie sie mit mir vorgegangen sind. Ich war Zeuge, doch ich konnte nichts sagen. Das ist auch nicht der Grund, warum die Mörder freigekommen sind. Sie haben mir nicht geglaubt. Die Leute, die über Recht und Unrecht entschieden, waren bilagaana, also Weiße, wie diese Mörder. Ich bin in deren Augen als Indianer eine andere Sorte.“

 

David Watkins merkt, wie verbittert Ayatéh über dieses Urteil ist und er fragt sich, wie es dazu kommen konnte, dass man diese Männer laufen ließ.

„Aber Sie waren sich ganz sicher, dass die beiden es waren?“

„Natürlich, da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Ich habe vieles an ihnen wieder erkannt.“

„Obwohl es dunkel war?“ Dies war sicher schon eine oft gestellte Frage.

„Es war nicht richtig dunkel. Es dämmerte und wir hatten ein kleines Licht an. Außerdem sind meine Augen darin geschult, im Dunkeln zu sehen. Ich bin es gewohnt und habe die Stimmen und andere Details wieder erkannt und auch den anderen, bei dem sie sich gar nicht erst bemühten, ihn zu finden.“

Der Beamte macht sich Notizen und wechselt dann das Thema.

„Chaka Dolores war in der Stammesregierung. Korrekt?“

Als er sieht, dass Ayatéh nickt, fährt er fort: „Er hatte viele Freunde, aber vielleicht auch Feinde?“

„Das weiß ich nicht. Wir haben nicht viel über solche Sachen geredet.“

David Watkins versucht, irgendwelche Zusammenhänge zu finden. Er tippt ein paar Mal gedankenverloren mit dem Kugelschreiber gegen die Tischkante, während er sich seine Notizen ansieht.

„Ich habe Papiere gefunden. Unterlagen über eine Fabrik, die Farben und Lacke herstellt, nördlich von hier, bei Tes Nez Iah. Sie ist relativ klein, eine Tochtergesellschaft, aber vor Kurzem erst auf Reservatsgebiet gebaut worden, weil es dort zusätzliche Subventionen gab. Was sagte Ihr Vater, Chaka Dolores dazu? Als Mitglied der Stammesregierung hatte er doch sicher ein Mitspracherecht. Es hatten einige unterschrieben, aber Dolores’ Unterschrift konnte ich nirgends finden. Warum fehlte sie? War sie nicht so wichtig? Trotzdem wurde die Fabrik gebaut.“

Vielleicht kann Ayatéh ihm auf diesem Gebiet weiterhelfen, denn irgendwie hat er unerklärlicherweise bei dieser Fabrik kein gutes Gefühl. Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Sie ist illegal“, erwidert Ayatéh, doch als er merkt, dass der Beamte ihn weiterhin fragend ansieht, sagt er: „Als diese Fabrik geplant war, wurde zunächst darüber diskutiert und Chaka äußerte Bedenken. Er brachte das Thema Schadstoffe auf den Tisch, doch es wurde verharmlost. Als Chaka dagegen war, hatte es angeblich noch Zeit und so fuhr er für ein paar Wochen mit meinem Bruder nach Phoenix.“

„Was wollte er dort?“

„Nichts Wichtiges. Er hatte dort einen Freund und mein Bruder ist ein guter Skater, doch hier gibt es kaum Möglichkeiten sich damit auszutoben. Sie haben zwar hin und wieder kleine Rampen gebastelt, aber das bringt es auch nicht richtig. In Phoenix gibt es gute Anlagen und Halfpipes und so weiter. Pablo war ganz wild darauf und so hat Chaka ihn hingefahren. Sie wohnten dort bei seinem Freund, den er schon lange kennt. Das taten sie öfter in den Ferien. So kam es, dass während seiner Abwesenheit schnellstens der Papierkram über diese Fabrik abgewickelt wurde. Die Unternehmer haben alle Bedenken vom Tisch gewischt. Es gibt Filteranlagen, außerdem werden die anfallenden Stoffe wieder regeneriert und die Restchemikalien werden von einer Entsorgungsfirma abgeholt. So haben sie Argumente vorgebracht, anschließend einfach gebaut und völlig ignoriert, das Chakas Unterschrift fehlte.“

„Wie war Chakas Reaktion, als er wiederkam?“

„Das weiß ich nicht. Ehrlich, er hat nicht viel darüber geredet. Als er kam, war alles schon gelaufen, der Wisch abgeschickt und das Fundament stand schon. Dann hat es auch nicht mehr lange gedauert, bis die Fabrik fertig war und in Betrieb ging. Na ja, es hieß, es gibt Arbeitsplätze.“

„Ist es nicht so? Wovon leben die meisten Menschen hier?“

„Vom Staat – und das ist das Mindeste, was man uns schuldig ist.“

„Wie meinen Sie das?“ David Watkins merkt, dass er ein heißes Eisen angerührt hat.

„Wie ich das meine?“ Ayatéh sieht Watkins etwas verdutzt an, dann setzt er seine Schnitzerei fort und überlegt, wie er es einem unwissenden bilagaana am besten erklären kann.

„Gehen Sie mal nach Gallup oder Kayenta und sehen Sie sich mal um. Die Dené leben nicht mehr lange, sie kippen sich Haarspray in den Alkohol, bis ihre Organe daran verkleben. Sie haben nicht das Geld, um sich vernünftiges Todilhil8 zu kaufen, außerdem ist im Reservat offiziell Alkohol verboten, niemand kann ihn hier besorgen. Sie können oft den weiten Weg nicht in Kauf nehmen, um daran zu kommen. Also wird gepanscht. Das ist die Wirklichkeit! Viele von uns haben keine Perspektive mehr. Man hat uns alles genommen. Wir werden nur noch geduldet. Wissen Sie, die Menschen meines Volkes haben ihre Identität verloren. Sie haben weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart einen eigenen Platz!“

„Viele sagen, die Indianer haben keine Perspektive mehr, weil sie nicht arbeiten wollen“, kommentiert Watkins, der es jetzt aus einer anderen Sicht darstellen will. Er wird von Hundegebell aufgeschreckt und sieht aus dem Fenster. Dort spielen einige Kinder mit einem braunen Mischlingshund, indem sie ihm einen Stock hinhalten. Doch als er zupackt, zerren sie daran, um ihn wiederzubekommen. Sie lachen und spielen vergnügt und ausgelassen. Als sie den Stock wegwerfen, läuft der Hund hinterher.

„Ich glaube, wir reden aneinander vorbei. Mal sehen, ob ich ein Beispiel finde“, überlegt Ayatéh kurz und erklärt ihm: „Wenn ein traditionsbewusster Diné morgens aus seinem Hogen kommt, dann begrüßt er den Tag mit einem Gebet und zwar Richtung Osten, wo auch der Eingang ist, denn dort geht die Sonne auf. Er segnet ihn und dabei nimmt er Blütenpollen aus seinem Jish9, die er über die heilige Erde verstreut. Jeder geht dann seinen Weg. Der eine macht dies, der andere macht das und noch ein anderer geht dann vielleicht in die Fabrik. Wenn er dort ankommt, ist er entweder zu früh oder zu spät, da, aber er kommt, wenn der Tag beginnt und er kann nicht verstehen, dass er auf eine Uhr sehen muss. Und wenn er denkt, heute ist ein guter Tag zum Leben, kommt er gar nicht. So ist es und die Kluft zwischen uns ist groß. Es fehlt an Toleranz beider Seiten. Mir ist natürlich auch bewusst, dass ein Geschäftsmann so nicht kalkulieren kann, aber niemand von den `Kolonisten´ macht sich die Mühe nach Kompromissen zu suchen – eine Lösung zu finden. Nach dem Motto der `Weißen´ heißt es: Lebt so wie wir und werdet glücklich. Sie wollten uns unsere Kultur, unsere Sprache, unseren Glauben, unser Leben und unsere Würde nehmen. Deshalb wollen viele von uns nicht für sie arbeiten und deshalb glauben sie, dass der Staat ihnen etwas schuldet.“

Ayatéh legt die Kachina-Puppe ab, lehnt sich gelassen zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich frage mich“, setzt er fort „ob ich glücklicher wäre, wenn ich die vielen materiellen Dinge besitzen würde, die die Weißen so brauchen. Ich denke nicht, dass es Zufriedenheit und harmonische Ausgeglichenheit bringt. Gut, unser Weg scheint momentan auch nicht ideal zu sein, aber wir hatten ihn und dies wurde uns ziemlich brutal genommen.

Ich glaube, dass die indigenen Schulen wie zum Beispiel in Chinle sehr wichtig sind. Dort unterrichten Lehrer vom Volk der Diné in unserer Sprache und nach unseren Wertvorstellungen. Wichtig ist es, eine Brücke zu bauen, zwischen unserer schwindenden Kultur und der modernen Zukunft. Beides zu verbinden ist möglich, aber nicht einfach, doch unsere Kinder können sich nur so in dieser Welt zurechtfinden.“

Ayatéh betrachtet sein mühsam geschnitztes Werk in Ruhe und genau von allen Seiten. Dann fährt er fort: „Das ist der einzige Weg, damit wir als Volk überleben. Die Kinder dort gehen nicht nur in die Natur hinaus und lernen praktisch, sondern wir brauchen auch gebildete Leute, die auf der Seite unseres Volkes stehen. So ist die Schule ein guter Anfang. Sie ist wichtig, denn die Kinder sind unsere Zukunft – wenn wir eine haben. Sehen Sie, Mr. Watkins, so etwas brauchen wir, aber keine Fabrik. Sie macht die Menschen hier physisch und psychisch krank.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Die Menschen hier bekommen Hautausschlag. Manchmal ist es so dramatisch, da hilft nur Cortison, aber das ist natürlich nur eine Symptombehandlung. Es ist wichtig, nach der Ursache zu forschen, erst dann kann man die Krankheit behandeln.“

David Watkins beginnt wieder, sich Notizen zu machen und fragt sich, was es wohl damit auf sich hat. „Und was glauben Sie ist die Ursache?“

„Die Symptome tauchten fast zeitgleich nach der Inbetriebnahme der Fabrik auf. Sie steht direkt neben dem Chinle Wash. Viele von uns leben von dem Fluss. Auch wenn die Fabrik sich nicht unmittelbar neben uns befindet, können wir davon betroffen sein. Wir haben nicht die finanziellen Mittel, um Proben analysieren zu lassen. Sie sehen, hier leben nur ein paar Navajo, da scheut man die Kosten, offiziell vorzugehen. Ein Verdacht reicht da nicht aus, gegen die Fabrik etwas zu unternehmen. Die Behörden haben lediglich die Papiere untersucht und angeblich ist alles legal. Wir müssen anscheinend damit leben.“

Watkins hatte ihm aufmerksam zugehört und begreift, dass die Problematik der jetzigen Situation in der dieses Volk lebt, zu wenig Beachtung findet.

Ayatéh zieht den kleinen, dunklen Vorhang an seiner Fensterseite etwas vor, denn er wird von der Sonne geblendet. Er fragt sich, wie die Ermittlungen des Beamten wohl weiter verlaufen werden. Wird er irgendwann aufgeben? Wird jemand verhaftet? Wie wird er in Zukunft vorgehen und was kann er mit seinen Aussagen anfangen? Nichts!

„Aber ich glaube, Sie sind aus einem anderen Grund hier und es ist nicht das, was Sie hören wollen. Sie wollen wissen, ob ich etwas mit diesen drei toten Männern zu tun habe“, lenkt Ayatéh das Thema wieder auf den Mord.

David Watkins lässt sich alles schnell durch den Kopf gehen. „Ja, das ist leider meine Aufgabe, ob ich will oder nicht. Ich muss diese Sache auf den Grund gehen, aber das Gespräch mit Ihnen war für mich nicht ohne Bedeutung. Ich habe Sachen erfahren, die ich vorher in meinem Buch über die Indianer nicht erfahren habe.“

„Was haben Sie für ein Buch gelesen? Auch über das Volk der Diné?“ fragt Ayatéh schmunzelnd.

„Ja, aber es wurde aus einer anderen Sicht dargestellt und wies nicht auf die Problematik hin. Die Navajos weben Teppiche, stellen Schmuck her, hüten Schafe und so weiter. Und das mitten in einer `Marlboro Kulisse´, die ich noch nicht einmal kennengelernt habe.“

„Na ja, es schreiben Weiße, bilagaana eben und ich glaube, dass viele schon die Problematik kennen, aber sie verdrängen oder nicht wahr haben wollen. Entweder wird zu wenig oder Falsches wiedergegeben. Solche Bücher sind allenfalls gut, um im Winter unsere Hogens damit zu beheizen. Aber was die Kulisse anbelangt, Sie können sich in Chinle informieren. Es werden viele Touren und Führungen in den Canyon de Chelly angeboten, am besten ist es mit dem Pferd. Es ist auch sehr interessant, sich die alten Ruinen des früheren Anasazi-Volkes anzusehen.“

„Das werde ich sicher einmal machen, aber zuerst sehe ich mir die Fabrik Heddington genauer an.“ Dann denkt Watkins daran, dass er keine Lust hat, Ayatéh noch einmal so lange suchen zu müssen. „Sagen Sie, als ich mich hier nach Ihnen erkundigte, sagte mir ein Junge: Ayatéh wohnt dort, wo der Wind am stärksten weht. Ich frage mich jetzt, wo weht der Wind am stärksten?“

Ayatéh stellt sein geschnitztes Werk ab und sieht ihn lächelnd an. „Wenn Sie hier rausgehen, fahren Sie links bis nach etwa zwei Meilen rechts eine ungeteerte Schotterstraße kommt, die man leicht übersehen kann. Dort biegen Sie ab und nach ein paar weiteren Meilen tauchen weit ab von der Straße in Abständen einige Häuser auf. Es ist das siebte Haus auf der linken Seite.“

„Ich werde es schon finden.“ Dann steht er auf, steckt seine Notizen ein und reicht Ayatéh die Hand. „Vielen Dank.“

„T’áá’ákódí ahéhee’ – Ich danke Ihnen.“

„Wofür?“ fragt David Watkins etwas erstaunt, denn schließlich hatte er Ayatéh die Zeit geraubt und ihm Fragen gestellt.

„Weil Sie mir zugehört haben.“

Auch Ayatéh erhebt sich und glaubt den Boden unter seinen Füßen zu verlieren. Mit einem Gefühl der Ohnmacht stellt er ihm die Kachina-Puppe hin und sagt: „Ich habe sie noch nicht ganz fertig, aber vielleicht können Sie es weitermachen. Dann hat sie eine besondere Bedeutung für Sie persönlich und Sie können sich damit besser identifizieren. Ich schenke sie Ihnen.“

Watkins ist überrascht und nimmt sie dankend entgegen. Identifizieren mit einer Geisterpuppe, denkt er, mal sehen, was dabei herauskommt.

„Wie war noch mal Ihr Name?“ fragt David noch einmal nach.

„Gavin Dolores.“

„Ich meine Ihren Navajoname. Darf ich Sie damit anreden?“

Ein FBI-Guy, der Sympathie für sein Volk aufbringt. Seinen Dené Namen hat im Grunde genommen keinen bilagaana zu interessieren. Aber na gut.

„Ayatéh“, gibt er ihm kurz zur Antwort.

 

Als Watkins im Auto Richtung Chinle fährt, um in sein Motel zurückzukehren, denkt er noch einmal über das Gespräch nach. Und je mehr er sich mit dem Fall beschäftigt, desto unbehaglicher fühlt er sich. Will er wirklich diesen Fall lösen? Doch es ist sein Job. Wenn die verstorbenen Männer in der Wüste die Täter waren, wie Ayatéh es behauptet, hatten die beiden den Tod allemal verdient. Und sogar Mr. Nelson ist davon überzeugt, dass sie schuldig sind. Wenn er beweisen kann, dass Ayatéh etwas damit zu tun hat, muss er ihn verhaften, wegen Mordes. Diesen Gedanken findet er jedoch abschreckend und er hofft, auf andere Ergebnisse zu stoßen.

Für die nächsten Tage ist David voll mit den Recherchen beschäftigt. Er findet heraus, dass Chakas jüngerer Bruder Santo Dolores, der Stiefvater des getöteten Babys war. Weil in seiner Ehe der Kinderwunsch unerfüllt blieb, haben sie das neugeborene Mädchen von der Schwester seiner Frau adoptiert. Diese Familie mit ihren acht Kindern war froh, entlastet zu werden. Santos Frau hieß Kathrin und konnte den Verlust des geliebten Babys nicht lange verkraften. Drei Monate nach der Tat beging sie Selbstmord. Für Santo muss es ein schwerer Schlag gewesen sein. Zuerst wurden sein Bruder und seine acht Monate alte Tochter ermordet und danach bringt sich seine Frau um.

Watkins findet heraus, dass sich Santo zu der Zeit, als man die toten Männer in der Wüste fand, in Tucson aufhielt. Diese Stadt liegt nur etwa hundertfünfzig Meilen vom Tatort entfernt. Vielleicht sollte er dort ansetzen und nach weiteren Hinweisen suchen.

So macht er sich auf den Weg in den Süden Arizonas und verfolgt jede Spur und jeden Hinweis, den er über Santo Dolores bekommen kann.

Dann spricht er mit dem Arzt, der die Autopsie durchgenommen hat, in der Hoffnung, dass es nicht nach Gewaltanwendung aussieht. Vielleicht kann er ihm Anhaltspunkte geben. David zieht zudem in Erwägung, dass das Wasser, welches die Zwei tranken, entweder stark verunreinigt war, oder direkt vergiftet wurde. Oder sie könnten von einem giftigen Skorpion oder einer Klapperschlange gebissen worden sein.

Doch der Arzt konnte ihm das leider nicht bestätigen. Im Fall des Brandopfers Lenardo sieht alles nach einem Unfall aus und wurde auch als solches abgeschlossen. Auch wenn es nicht so war – denn so einen Zufall kann er sich nicht vorstellen, für David Watkins ist damit jedenfalls diese Sache erledigt, denn Lenardo war ein Mörder wie die anderen.

Die Hinweise sind sehr dürftig und widersprüchlich und schließlich fährt er ohne konkrete Indizien gegen Santo wieder nach Chinle zurück. Jetzt weiß er nicht mehr so recht weiter und glaubt auch nicht daran, dass er hier im Reservat vorankommt. Er muss systematisch herangehen. Dieser Auftrag ist sein erster Alleingang und er kommt sich ziemlich verloren vor. In seinem Bezirk in Denver hatte jeder seine verschiedenen Aufgaben in ein und demselben Fall, von der Spurensicherung über Verhöre, Recherche, Verfolgungen, Berichte bis zur Verhaftung. Alles wurde aufgeteilt auf verschiedene Personen und man ging gemeinsam vor, teilte und verknüpfte die Ergebnisse untereinander und kam somit auf erfolgreiche Resultate.

Und jetzt? Jetzt liegt er erschöpft auf seinem Bett, in einem Nest am Ende der Welt und freut sich auf jeden Windhauch, der herein weht. Allein auf sich gestellt, wird von ihm ein Resultat erwartet, über den erledigten Fall zweier Männer, die man tot in der Wüste fand.

Um sich abzulenken, schaltet er schließlich den Fernseher ein, doch er kann sich nicht konzentrieren. Während das Gerät läuft, schweifen seine Gedanken ab – hin zu den Menschen in dieser Gegend. Er denkt über ihr Leben nach – ein ruhiges, eintöniges Leben, ohne Ansprüche und Komfort. Fast jeder kennt jeden. Was machen sie, wovon leben sie?

Ihm fällt das von den Navajos geführte Unternehmen Tribal Industrial Park in Farmington ein, wo die Zucht von Shiitake Pilzen für den japanischen Markt betrieben wird. Dann gibt es hier einige Obstplantagen und kleine Schaf- und Rinderzüchter.

Viele Menschen bekommen hier staatliche Unterstützung und er fragt sich, was Ayatéh jetzt für ein Leben führt. Manchmal wirkte er verbittert. Doch wie würde er selbst denn sein, wenn ihm so etwas Schreckliches passieren würde? Dann packt er seine Kachina-Puppe aus und sieht sie sich genau an. Es steckt viel Arbeit darin und sie werden sehr teuer verkauft, doch Ayatéh hatte sie ihm einfach so geschenkt.

 

 

Als David die Augen aufschlägt, ist es noch dunkel. Er drückt das Licht der Uhr und sieht, dass es erst fünf Uhr dreißig morgens ist. Heute ist sein Geburtstag. Mal sehen, ob jemand an ihn denkt. Er fühlt sich schon die ganzen letzten Tage über irgendwie einsam und hofft, dass Cindy ihn anrufen wird. Sie hatten sich in Freundschaft getrennt, als er damals von New Jersey in den Westen nach Denver zog. Aber wahrscheinlich würde sich außer seiner Verwandtschaft niemand melden. Gilbert vielleicht, sein früherer Kollege, der ihm auch ein guter Freund war, oder Carol, seine Halbschwester, zu der er leider schon lange nur noch flüchtigen Kontakt hat, weil sie nach Florida gezogen ist. Er hatte schon seit langer Zeit mit niemandem mehr ein privates Wort gewechselt und vermisst es gerade heute an seinem Geburtstag ganz besonders. Schlafen kann er nicht mehr, also steht er auf und schaut in den Kühlschrank seines Motelzimmers nach etwas Essbarem. Doch eigentlich verspürt er keinen Hunger. Ihm fällt die Flasche Sekt ein, die schon seit Tagen im Kofferraum liegt. Nach dem Duschen schlüpft er in seine Kleidung und stellt fest, dass er das letzte, saubere T-Shirt überzieht. Na ja, dann kann er seinen Geburtstag damit verbringen, sich auf die Suche nach einem Waschsaloon zu machen, um seine ganze Wäsche zu waschen. Noch mit nassen Haaren stapft er nach draußen und holt sich die Flasche Sekt aus dem Auto, das vor seiner Tür steht. Als er sich daran macht, sie zu öffnen, fällt ihm ein, dass er noch nie alleine Sekt getrunken hat und erst recht nicht am frühen Morgen. Irgendwie kommt er sich ziemlich verlassen vor. In Denver hatte er immer jemanden, mit dem er anstoßen konnte. Aber hier ist er in einem winzigen Nest einsam und verlassen. Wen kennt er hier denn schon? Ayatéh fällt ihm ein und er war bisher der Einzige, mit dem er ein intensives Gespräch geführt hatte, obwohl vieles nicht mit seinem Fall zu tun hatte. Er wies ihn auf die Problematik der Indianer hin. David hatte sich viel Zeit gelassen und irgendwie sind dabei seine `wichtigen´ Fragen in den Hintergrund gerückt. Es war nicht das übliche Frage-und-Antwort-Verhör gewesen, wie es sonst praktiziert wurde. David fragt sich, was der Navajo für ein Mensch ist. Er wirkt selbstsicher und intelligent, so scheint es ihm jedenfalls. Bemerkenswert ist seine innere Ruhe, die er ausstrahlt und die sich zu übertragen scheint. Was weiß Ayatéh über den Tod der drei Männer? Es sind noch viele Fragen offen und David nimmt sich vor, jetzt gleich zu ihm zu fahren.